Man will doch nur spielen. Die unendliche Baugeschichte der Städtischen Bühnen Frankfurt von Dieter Bartetzko

Vom Komödienhaus zum Kunsttempel: Frankfurts erstes Schauspielhaus

Wenn sie auf ihrem Logensitz in der „Erregung des Herzens“ um Luft ringe, so schrieb einst Goethes Mutter über ihre grenzenlose Liebe zum Theater, dann könne es geschehen, dass ein biederer Nachbar ihr zuraune: „Sie spielen’s ja nur.“ Schauplatz dieses Ringens zwischen Lakonik und Enthusiasmus, Nüchternheit und Leidenschaft war das legendäre Komödienhaus am heutigen Frankfurter Rathenauplatz. „Mit Ehrfurcht“, so zitiert Waldemar Kramers Frankfurt-Chronik (1964) das Tagebuch eines Zeitgenossen, „tritt man in das mit lauter Glaskugeln beleuchtete Parterre, himmelblau gemalt, mit goldenen Verzierungen und mit Scharlach ausgeschlagen. Das neue Komödienhaus im holländisch-französischen Geschmack macht in der That den Frankfurtern Ehre.“

Der entzückende klassizistische Bau von Stadtbaumeister Johann Andreas Liebhardt war am 3. September 1782 eröffnet worden, erlebte zwei Jahre später die spektakuläre Uraufführung von Schillers Kabale und Liebe, 1788 die des Don Carlos und blieb, eine kunsthistorische Kostbarkeit, bis zur Eröffnung des neuen Schauspielhauses 1902 in Benutzung. Von da an stand das Kleinod, seitens der Denkmalpflege immer wieder als unverzichtbar gewürdigt, acht Jahre lang leer, um schließlich in schönstem Frankfurter Kaufmannspragmatismus abgerissen zu werden. An seiner Stelle entstand in Windeseile ein monumentaler, für die Ära charakteristischer Kolossalsäulenbau – ein Geschäftshaus, versteht sich.

„Frankfurt fährt selten aus – aber wenn, dann vierspännig“: Das zwischen Selbstzufriedenheit und Selbstironie changierende geflügelte Wort des 19. Jahrhunderts hatte einen Kronzeugen im neuen Schauspielhaus, das man sich 1902 leistete. Den Ruhm des Frankfurter Opernhauses von Richard Lucae vor Augen, bei dessen Einweihung 1880 Kaiser Wilhelm I. ein „Das hätte ich mir in Berlin nicht erlauben können“ entschlüpft war, hatte man 1899 den vielversprechenden Berliner Theaterarchitekten Heinrich Seeling mit dem Entwurf eines neuen spektakulären Sprechtheaters beauftragt. Er legte Zeichnungen vor, auf denen die Großform mit exotisch unterfütterter Neorenaissance und einem freien Zitat der Berliner Reichstagskuppel staatstragende Bedeutung signalisierte, während Jugendstildetails dezent den Willen zur Moderne andeuteten.

Hätte man (was Frankfurts notorischer Pragmatismus ausschloss) zuvor noch Bedenken gehabt, für den Neubau an der Untermainanlage eines der schönsten klassizistischen Gebäude Frankfurts, das vom französischen Hofbaumeister Salins de Montfort 1820 errichtete Palais Grunelius, abzureißen – die ostentative Pracht von Seelings Entwurf hätte sie zerstreut. Oder ließ das renditeträchtige Nutzungskonzept die wenigen Stimmen verstummen, die den Erhalt des kostbaren Salins-Baus forderten? Seelings Pläne verbanden nämlich das Theater mittels einer eleganten doppelreihigen Säulenarkade samt „Lustgarten“ mit einem extravaganten Mietshaus, in dessen Erdgeschoss ein „gehobenes Wein- und Bierrestaurant“ mit dem sprechenden Namen „Faust“ residieren sollte.

Nicht nur die Größe, sondern auch und vor allem sein Stil unterschied das neue Schauspielhaus fundamental von seinem historischen Vorgänger: Heinrich Seelings ganz auf das internationale Anspruchsniveau zugeschnittene Mischung aus Neorenaissance und Jugendstil bedeutete den endgültigen Abschied Frankfurts von den eigenen Bautraditionen. Bis weit in das 19. Jahrhundert hinein hatte die Stadt an überlieferten Baumaterialien wie dem roten und beigen Sandstein und dem berühmten „Frankfurter Klassizismus“ festgehalten. Eben noch war in Architektur-Magazinen anerkennend vom Frankfurter Sonderstil die Rede gewesen, nun gab man sich metropolitan – und übersah, dass zur selben Zeit das deutsche Bühnengenie Max Reinhardt die klassizistische Umgestaltung seiner Berliner Theater vorbereitete. 1905 war es so weit: Dem Deutschen Theater wurde vom Architekten William Müller eine nobel-schlichte neoklassizistische Fassade und ein Foyer in Neo-Empire gegeben; 1906 folgten die Kammerspiele, für die Müller eine Friedrich Gillys Klassizismus nachempfundene Front und einen zwischen Jugendstil und Sachlichkeit oszillierenden Zuschauerraum gestaltete. Mit einem Schlag wirkte der Stil des Frankfurter Schauspielhauses altbacken.

Doch davon blieb das Frankfurter Publikum vorerst unberührt. Man war stolz auf die Schaufassade mit zwei aus Turm und Obelisk gemischten Risaliten, zwischen denen ein breitgelagertes dreigeteiltes Säulenpfeilerportal mit Balkon und Auffahrt vorsprang, überfangen von drei hohen, wie Monumentalnischen eingetieften Rundbogenfenstern, über denen ein mächtiges, mit Reliefs verziertes dreieckiges Giebelfeld lagerte; das Arrangement trumpfte auf wie die Theaterfassaden in Paris und Wien, Brüssel und London.

Auch die Stirnseiten der spiegelbildlich angefügten Seitentrakte entfalteten mit Blendnischen samt überlebensgroßen allegorischen Statuen und Büsten großstädtisches Gepränge. Vergleichsweise spröde dagegen gaben sich die statuenlosen, einzig durch Fensterbögen und Pilaster geschmückten Seitenfronten – verschmerzbar, da hoch über ihnen die gigantische Kuppel des Bühnenturms jedermann signalisierte, dass im Inneren eine der breitesten und technisch bestausgerüsteten Bühnen Europas die Zuschauer erwartete. Auf dieser Kuppel, die, wie eingangs gesagt, entfernt an Paul Wallots Berliner Parlamentshaube erinnerte, reckte sich auf einem ornamentstrotzenden Säulenpavillon Melpomene, die Personifikation der Tragödie.

Überhaupt setzten der Architekt und die Bauherren mittels einer ausgeklügelten Ikonographie das konservative Kunst- und Kulturverständnis ihrer Zeit aufwendig in Szene: Den Giebel des Empfangstrakts schmückte der italienischstämmige Bildhauer Augusto Varnesi, der zuvor lange am Figurenprogramm des Reichstags beschäftigt gewesen war, mit den Reliefdarstellungen von Tragödie und Komödie. Die Seitentrakte dekorierten Figurengruppen zum Thema „Dichtung“ und „Rhetorik“, flankiert von Monumentalbüsten der Nationaldichter Goethe und Schiller.

Auch wenn die Ähnlichkeit des Bühnenturms mit der Berliner Reichstagskuppel Vaterländisches ausstrahlte, war doch die Hauptwirkung des Schauspielhauses eine eher paneuropäische: Die Fassadenskulpturen verwiesen auf das humanistische Renaissance-Florenz, und eine geflügelte Sphinx auf dem Dachfirst über dem Empfangstrakt, die mit aufgerichtetem Haupt hinunter auf das eintretende Publikum und zugleich in unermessliche Fernen zu starren schien, stand für das archaische Griechenland und damit den Ursprung der europäischen Kultur und Bühnenkunst. Als Allegorie aller Geheimnisse, die das Theater bewahrt und offenbart, war sie nicht nur die symbolische Hüterin der Tradition, sondern zugleich so etwas wie die unerkannte, von Sigmund Freud gesandte Vorbotin der Stücke eines Strindberg, Ibsen oder Hauptmann, deren „Nerventheater“ bald auch auf Frankfurts Bühne die Moderne in ihr Recht setzen sollte.

Die Bekrönung der turmartigen Frontrisalite, zwei Schwäne, die unsereins unwillkürlich für stramme preußische Adler hält, waren gleichfalls alles andere als Geschöpfe der wilhelminischen Pickelhauben-Mentalität: Im griechischen Mythos Attribut der Aphrodite, im germanischen den Walküren beigesellt, in beiden Kulturen auch als Seelengeleiter verstanden, sollten sie am Frankfurter Theater Schönheit, Anmut und Reinheit vertreten; sinnliche Entsprechung von Goethes sprödem „Dem Wahren, Schönen, Guten“, das am Giebel der Frankfurter Oper prangte.

Die heute populärste Figur des Schauspielhauses (es wird noch darauf zurückzukommen sein) war beziehungsweise ist die von Franz Krüger geschaffene Bronzegruppe Thalia auf einer Pantherquadriga über dem Zentralgiebel. Ihr Vorbild war möglicherweise die Quadriga des Bildhauers Johannes Schilling, die seit 1878 auf dem Giebel der Dresdner Semperoper Dionysos und Ariadne als Patrone der Theaterkunst präsentiert. Mit der Wahl Thalias, der Muse der komischen Dichtung und der Unterhaltung, trug man vermutlich in Frankfurt der Bestimmung des Hauses als Spielort auch von Komödien Rechnung.

Einige Jahre nach Eröffnung des Schauspielhauses, nämlich 1910, trat mit dem sofort ungemein beliebten „Märchenbrunnen“ endgültig der Jugendstil in sein Recht, gepaart mit einer aufschlussreichen Volkstümlichkeit: Kurz zuvor hatte man beim Neubau des Frankfurter Rathauses an den Fassaden nicht nur die Statuen verdienter Honoratioren, Wissenschaftler und Künstler aufgestellt, sondern auch Abbilder stadtbekannter Originale, beispielsweise zwei „Kannix“ und „Habnix“ titulierte Schnorrer, einige der schlagfertigen Marktfrauen aus Sachsenhausen und einen vorwitzigen, von der Obrigkeit gefürchteten Journalisten.

Frankfurt, auf dem Weg von der Patrizierrepublik zur sozialdemokratischen Stadt, entdeckte und verewigte seine Zuneigung fürs „Volkstümliche“. Folgerichtig posierte ab dem August 1910 neben der Schaufront des Schauspielhauses über einer vegetabil bootsartigen Brunnenschale, die der Mäzen Leo Gans gestiftet hatte, nicht Apollo oder die tragische Muse Melpomene, sondern, nackt wie Bildhauer Friedrich Christoph Hausmann sie schuf, die Personifikation des Märchens; nach den Regeln der Ikonografie würde man sie als Nymphe bezeichnen. Das Frankfurter Publikum ernannte die Statue aus weiß glitzerndem Tiroler Marmor sofort zum „Mainweibchen“ – und hielt ihr bis in unsere Tage über alle Stilwechsel der Kunst hinweg die Treue. So sehr, dass 2005 und 2006 die bronzenen Putten, Fische und Eidechsen, die im Zweiten Weltkrieg eingeschmolzen worden waren, anhand historischer Fotografien rekonstruiert und erneut zu Füßen der Nymphe aufgestellt wurden.

Ein entscheidendes Detail aber fehlt dem Brunnen seit seinem Wiederaufbau 1951: die halbrunde steinerne Sitzbank, die nach antiken Vorbildern als noble Exedra gestaltet worden war. Dass selbst 2006, als Stadtraumplaner grübelten, wie man den Vorplatz des Theaters zur Verweilzone machen könne, niemand auf die Idee kam, die bis zur Zerstörung 1944 täglich umlagerte Sitzbank wiederherzustellen, wirft ein bezeichnendes Licht auf die momentane Unfähigkeit, den öffentlichen Raum publikumsfreundlich zu gestalten.

Zurück ins Jahr 1911: Die nun vollendete subtile Mischung aus mondänen und volkstümlichen Elementen, wie sie das Äußere des Schauspielhauses prägte, trat im Inneren hinter die eher konventionelle Ausgestaltung zurück. Das Foyer entsprach mit dezenter Neorenaissance den allgemeinen Erwartungen; der Zuschauerraum mit seinem breiten Parkett und drei Rängen erfüllte die Norm großer Stadttheater, nicht mehr und nicht weniger. Doch der rasante, zwischen konvex und konkav schillernde Jugendstilschwung der Ranganordnung – er hat sich über alle radikalen Umbauten bis heute erhalten – verlieh dem Riesenraum eine eigene, unverwechselbare dynamische Note.

Dieser sozusagen zukunftsfrohe Sturm und Drang des Jugendstils sprang in den folgenden Jahren auf das Repertoire über. Zu dessen Höhepunkten zählte 1911 die Premiere – die Uraufführung hatte man misstrauisch der Hauptstadt Berlin überlassen – von Carl Rösslers Die fünf Frankfurter. Als die Berliner Kritiken aber erkennen ließen, dass die mit tragischen Untertönen versehene Mundartkomödie über die fünf Gründerbrüder des legendären Frankfurter Bankhauses Rothschild neben den Schwächen auch die Tugenden der lokalen Handels- und Banken-Elite feierte, war man begeistert.

Erfolgreich an die Frankfurter Liberalität appellierend, gelang es nach dem Ersten Weltkrieg den Leitern des Schauspielhauses, Frankfurts Bühne neben Berlin zu einem Zentrum des umstrittenen expressionistischen Theaters und zur Talenteschmiede für Autoren und Schauspieler zu machen. Experimentierfreudig wie das Theater zeigte sich damals auch das städtische Bauen: Binnen zehn Jahren schuf Ernst May das „Neue Frankfurt“. Zwar konnte er seinen radikalen Funktionalismus vorwiegend nur in Gestalt von Trabantensiedlungen verwirklichen. Doch in der Innenstadt ließen sich einige Bauherren von seinem Bekenntnis zum ornamentlosen Kubismus mitreißen. Wie in Berlin wurden auch in Frankfurt die opulenten Gründerzeitfassaden im Zentrum bereinigt. „Fort mit Schnörkel, Stuck und Schwaden. Glatt macht man jetzt die Fassaden“, spöttelte 1928 im Berliner Theater am Kurfürstendamm die Revue Es liegt in der Luft! Im selben Jahr entdekorierte Ernst Mays Assistent Martin Elsässer das pompöse Palmengarten-Gesellschaftshaus und gab ihm eine pathetisch-asketische Fassade à la de Chiricos Pittura metafisica.

Ob May und seinem Stab Ähnliches für das Schauspielhaus vorschwebte, ist unbekannt. Mit der Emigration des Stadtbaurats in die Sowjetunion 1930 und dem Ausbruch der Weltwirtschaftskrise kam alles Bauen zum Stillstand. So setzte einzig das legendäre Café Rumpelmeyer, schräg gegenüber der Schauseite des Schauspielhauses gelegen und die Frankfurter Ausgabe des „größenwahnsinnigen“ Berliner Romanischen Cafés, mit seinem neusachlich gestalteten, dem Theater zugewandten Wintergarten ein kleines Zeichen der Moderne.

Denkbar ist, dass die Nationalsozialisten über kurz oder lang das Schauspielhaus gemäß ihrer Architekturideologie so entdekoriert hätten wie 1938 das Berliner Schillertheater. Doch statt Presslufthämmern einer „Stilbereinigung“ rückten Sprengbomben dem Bauwerk zu Leibe – am 29. Januar 1944 brannte Frankfurts Theater aus, blieb aber in seiner Grundsubstanz und dem Äußeren weitgehend erhalten.

Fort mit Schnörkel und Stuck

 Schon 1948, im selben Jahr, in dem die wiedererrichtete Paulskirche mitten in der Trümmerwüste der Altstadt eröffnet wurde, fiel die Entscheidung, das Schauspielhaus wiederaufzubauen. Eine bewundernswerte Tatkraft und ein imponierender Idealismus angesichts der weitflächigen Zerstörungen und Tausender Obdachloser. Doch der Eindruck relativiert sich, wenn man die Umstände näher betrachtet: Frankfurts provisorischer Magistrat verzögerte die Aufräumarbeiten am Theater. Als Beschwerden der Bevölkerung laut wurden, dass man zwar die Dächer und Heizungen der Rathausbauten erneuere, Schulen und Kindergärten aber unterversorgt blieben, ließ man zeitweise die Arbeiten ganz ruhen.

Doch dieselben Bürger, die anfangs polemisiert hatten, protestierten, als im Januar 1950 die Stadtverordnetenversammlung den Wiederaufbau des Schauspielhauses gänzlich stoppte. „Allem voran“, so die offizielle Begründung, „geht die Sicherung der nackten Existenz unserer Mitbürger. Dazu gehört in erster Linie die Beschaffung von Wohnraum.“ Was folgte, ging als „Frankfurter Theaterkrise“ in die Geschichte der Stadt und der jungen Bundesrepublik ein: Eine Unterschriftensammlung des damaligen Schauspieldirektors Richard Weichert, bei der 50 000 Bürger den Fortbestand der Bühne forderten, gab schließlich den Ausschlag, dass im Oktober 1950 die definitive Entscheidung für einen zügigen Wiederaufbau fiel. Ihre Schattenseite: Das Theater wurde zur Spielstätte der Oper bestimmt, weil Lucaes Opernhaus, das bald darauf den makabren Ehrentitel „Schönste Kriegsruine Deutschlands“ erhalten sollte, in unverbesserlichem frankfurterischem Behörden-Pragmatismus für rettungslos verloren erklärt und zum Ausschlachten durch Schrotthändler freigegeben worden war.

Für das Schauspiel wurde der ihm 1946 als Provisorium zugeteilte Börsensaal einstweilen zum Dauerrefugium. Dass man damit nur wenige Schritte entfernt vom Standort des einstigen Komödienhauses spielte, dürfte niemandem bewusst und, wenn doch, dann kein Trost gewesen sein.

Frankfurt im Jahr 1953: An der Friedensbrücke steht immer noch das Sperrholzschild, auf das witzelnde GIs den Schriftzug „Chicago am Main“ gepinselt haben. Vielen Bürgern, vor allem aber dem Magistrat, ist der Witz längst Ernst: Hinter der Hauptwache wächst, gestaltet nach Hochhaus-Vorbildern in Chicago, der Fernmeldeturm, einige Schritte weiter entsteht das Rundschau-Haus, dessen gläserne „Runde Ecke“ Erich Mendelsohns berühmtes Berliner Mosse-Verlagshaus von 1920, aber auch H. L. Sullivans legendären Schlesinger and Mayer Store in Chicago zitiert. Und am zentralen Kaiserplatz, wo Rosemarie Nitribitt ihre Runden zu drehen beginnt, kreiselt im gläsernen Treppenhaus-Zylinder an der Stirn des Juniorhauses eine der schärfsten Wendeltreppen der jungen Republik.

Frankfurt wähnt sich auf dem Weg zur „modernsten Stadt Europas“. Wer damals vom Rossmarkt her auf das Juniorhaus schaut, sieht dahinter den Bühnenhaus-Kubus des Schauspielhauses aufragen. Nichts mehr von Reichstagsprunk ist an ihm zu erkennen, stattdessen bietet er sich sachlich-nüchtern als reiner Zweckbau mit Satteldach. Die übrige äußere Hülle zeigt nahezu unversehrt den Vorkriegszustand; ramponiert ist lediglich das angrenzende Mietshaus mit dem Restaurant Faust, das dennoch weiterhin als Theatertreff floriert.

Ein entscheidendes Detail aber haben der städtische Oberbaurat Ueter und das Architekturbüro Apel, die für den Wiederaufbau verantwortlich zeichneten, verändert: Der Haupteingang zeigt keine Säulen und keinen feierlichen „Erscheinungsbalkon“ mehr. Stattdessen öffnen – das Gleiche hat Ferdinand Kramer am Säulenportal der Goethe-Universität gemacht – gläserne Schwingtüren den Blick in das Vestibül; der Balkon ist diskreten Austritten mit hauchdünnen Brüstungsgittern gewichen, und wie die Portale sind auch die drei Rundbogenfenster über ihnen bis auf Fußbodenniveau verglast, so dass abends ungehindert in das Foyer geschaut werden kann – Transparenz, die seit Hans Schwipperts Glaswand im Parlamentssaal des Bonner Bundestags als Zeichen der Demokratie und ihrer Durchlässigkeit gilt.

Das Innere hat das Frankfurter Architektengremium einer radikalen Entkernung – brutal gesagt: einer Ausschabung – unterzogen. Nur die statisch unverzichtbaren Elemente sowie tragende Wände sind geblieben, ertüchtigt, neu verputzt, geweißt. Über diese sozusagen abstrakten „urgeometrischen“ Volumina, die für sich betrachtet durchaus so eindrucksvoll wie beispielsweise die ebenso entdekorierten Innenräume des Würzburger Doms oder der Münchner Michaelskirche hätten wirken können, zogen jedoch Dekorateure eine Art betulichen Plüschschleier – Volants und Draperien, Schnörkelleuchten und geschwungene Gesimse verbreiteten eine zwischen Gelsenkirchener Barock und Gutsherren-Eleganz schwankende Atmosphäre, wie sie in vielen Repräsentationsräumen jener Ära, von Konrad Adenauers Arbeitszimmer im Bonner Palais Schaumburg über die benachbarte Villa Hammerschmidt des Bundespräsidenten bis hin zum Gästehaus der Regierung auf dem Petersberg, gang und gäbe war.

Wie 50 Jahre zuvor lagen damit auch 1953 Welten zwischen der Erscheinung und der Technik des Hauses: Die neue, 38 Meter breite Drehbühne war seinerzeit die größte und modernste Europas.

Dass nicht nur Geld und Politik das Leben bestimmen

 1962, ein Jahr ehe der damalige Kanzler Erhard mit seinem bedingungslos modernen, gläsernen Kanzlerbungalow die bundesdeutsche Öffentlichkeit in zwei konträre Geschmackslager spaltete, donnerten an und in Frankfurts Schauspielhaus die Presslufthämmer. Sie führten aus, was seit dem 13. November 1956 die Arbeitsgemeinschaft Apel-Kuhnert-Ueter im Auftrag der Stadt entworfen hatte: die Vorarbeiten für eine Theaterdoppelanlage, in der Oper, Schauspiel und Kammerspiel, vereint hinter einer durchgehenden Glasfassade, den Spielbetrieb gewährleisten sollten.

Begleitet vom Abriss mehrerer Wohnhäuser an der Neuen Mainzer Straße sowie des Faust-Restaurants und der Planierung des Faust-Gartens samt seiner Säulengänge, gingen die vollständige Beseitigung der historischen Fassaden und die abermalige Entkernung des Inneren vonstatten. All dies weckte nicht nur Begeisterung bei den Bürgern. Empört reagierte man schließlich, als vor dem inzwischen trostlosen Bauwerk die ramponierten Monumentalbüsten Goethes und Schillers auf dem Bürgersteig auf ihren Abtransport warteten.

Der Magistrat beschwichtigte die zunehmenden Beschwerden mit der Zusage, sämtliche Statuen und Reliefs des alten Schauspielhauses würden sorgfältig ausgebaut, verwahrt und bei passender Gelegenheit wiederverwendet. Was davon zu halten war, sollte sich erst 20 Jahre später herausstellen, als während des Wiederaufbaus der Alten Oper ein Journalist der Frankfurter Rundschau die Plastiken Thalias und ihrer Pantherquadriga auf dem Lagerplatz eines Schrotthändlers am Rand der Stadt entdeckte. Die Figurengruppe wurde zurückgekauft und als Ersatz für den 1944 in der Brandhitze geschmolzenen (vielleicht aber auch erst 1951 als Altmetall entsorgten) Apollo auf den Vestibülgiebel der Alten Oper gestellt. Die übrigen Skulpturen des Schauspielhauses aber blieben – mit einer Ausnahme, über die noch zu sprechen sein wird – unauffindbar; versunken im Meer der notorischen magistralen Gleichgültigkeit.

1961 übertönte der allgemeine Jubel nicht nur die Bedenken über den Verlust des alten Theaterbaus, sondern auch die vereinzelten Einwände gegen den gleichzeitigen Abriss des Schumanntheaters am Hauptbahnhof; der 1905 von den Berliner Architekten Friedrich Kristeller und Hugo Sonnenthal in glamourösem Jugendstil errichtete Varietépalast war längst als architektonische Kostbarkeit erkannt, hatte aber gegen die Gewinnaussichten des öden Bürohauses, das an seine Stelle trat, keine Chance: Frankfurt, vor allem sein Magistrat und seine Baudezernenten, schwelgte unter dem Stichwort „International Style“ in einem fulminanten Glas- und Funktionalismus-Rausch.

Neben der Ruine der Alten Oper wuchs, allgemein bewundert, ab 1960 das Zürich-Hochhaus am Rand des Rothschild-Parks. Mit dessen „Sandwich-Brüstungen“ aus blau emailliertem Glas, gehalten und senkrecht gegliedert von Trägern, die mit silbernem Aluminiumblech überzogen waren, übertrug der Zürcher Architekt Werner Stücheli neueste amerikanische Trends nach Frankfurt. Das Gleiche galt für das Hochhaus der Schweizer National, das, entworfen vom hiesigen Büro Meid und Romeick, ab 1962 direkt hinter dem Rohbau der neuen Theaterdoppelanlage am Mainufer in die Höhe stieg; 15 gläserne Büroetagen, eingehängt in fünf den Turm rechtwinklig umspannende, schlanke Betonbügel, die mit Kupferblech verkleidet wurden. Dass eine immer stärker werdende, (vorerst noch) freudige Ahnung von Manhattan durch die Stadt zog, bewirkte zudem der Rohbau der BHF-Bank wenige Schritte vom Zürich-Hochhaus entfernt. Seit 1960 baute Sep Ruf, der Architekt des gläsernen Kanzler-Bungalows, diesen Bankenturm als optisch schwerelosen, vom reizvollen Widerspiel zwischen weißgrauen Marmorbrüstungen, Glaswänden und filigranem silbrigem Trägergerüst geprägten Vierkant.

Als 1963 dann die Baugerüste an der neuen Theaterdoppelanlage fielen, taten sich anfangs selbst eingefleischte Anhänger des International Style schwer mit dem neuen Äußeren. So radikal wie die Schaufront von Apel/Beckert/Becker hatte von Münster bis Düsseldorf, Mannheim bis Köln noch kein Theaterneubau jegliche Repräsentation verweigert. Nahtlos spannte sich, nur rhythmisiert von Rechteckstützen, die mit Aluminium verkleidet waren, eine neutrale Glasfläche 120 Meter in die Waagerechte.

Unter ihrer weiten Auskragung verschwanden die Zugänge zu Oper und Schauspiel – noch während der Bauarbeiten hatte man die ursprünglich geplanten festlichen Baldachine, die, für die Oper halbrund, für das Schauspiel waagerecht, auf die Portale zuführen sollten, aus Verkehrsgründen gekappt. Selbst die Dachterrasse, die über dem dritten Rang der Oper das kleine, zusätzliche zweite Foyer nach draußen verlängerte, trat hinter die Fassade zurück; was Wunder, dass einige Spötter von Theaterfabrik sprachen.

Noch spröder gaben sich die Seitenfronten der gigantischen Doppelanlage – mit stereometrischen Fensterbändern, hinter denen sich, von außen ununterscheidbar, Proberäume, Garderoben, Büros und Künstlerwohnungen verbargen, sowie schmucklosen, von Kalksteinplatten nüchtern glatt verkleideten Wandflächen glichen sie aufs Haar den neutralen Büro- und Bankcontainern, die zur selben Zeit in der City entstanden; nur der Schriftzug „Kammerspiele“, so monierten Kritiker, lasse an der Rückseite des neuen Theaters erkennen, dass hinter den dortigen dezenten Glastüren nicht eine moderne Anwaltskanzlei, sondern ein intimes Theater auf Besucher warte.

Der Neubau, so erklärte Oberbürgermeister Werner Bockelmann zur Eröffnung im Dezember 1963, sei „das Werk einer Bürgerschaft, die in diesem Haus zu repräsentieren und sichtbar zu machen wünscht, dass nicht nur Geld und Politik das Leben bestimmen.“ Seine Worte sind nicht als Sonntagsrede abzutun – es war den Architekten und Bauherren durchaus ernst mit dem Wunsch, eine Architektur zu schaffen, in der die Macht und der Rang der Kunst sinnfällig werden und dem nackten Funktionalismus der Banken- und Versicherungsbauten ringsum Paroli bieten sollten.

Dem Zeitgeist entsprechend sollte aber die Repräsentation sinnenfreudiger Gegenwelten dem Zauber der Bühne vorbehalten bleiben – ihrer architektonischen Umhüllung waren nur Andeutungen von Fest und Überschwang erlaubt. Folgerichtig beschränkten die Architekten sich auf edle Materialien wie Solnhofener Marmor und verschwenderische Treppenfluchten im Inneren. Damit gerieten die Foyers und Wandelgänge von Oper und Schauspiel trotz Askese zu beeindruckenden, kühl-eleganten Raumfluchten; ein Hauch von Mies van der Rohe strömte durch die Abfolge ihrer Rampen, Pfeiler und Nischen, die das Innere gliederten. In der Oper sorgte überdies die alte Raumschale des einstigen Schauspielhauses, die man aus Sparsamkeitsgründen beibehalten hatte, für erhebende Eindrücke – noch immer schwangen unter ihrer modernen Neutralhülle die Ränge so mitreißend wie zu Zeiten des Jugendstils.

Im neuen Schauspielhaus hatte man mit Anklängen an die amphitheatralischen Schwünge des antiken griechischen Theaters zu einer bestechend großzügigen Synthese aus Einst und Jetzt, antiker und moderner Demokratie gefunden; besonders stolz war der Intendant auf die neuestem Standard entsprechende Bühnentechnik und auf die Bühne selbst, die seinerzeit die breiteste Europas war. Man habe ein Theater „aus heutigem Empfinden und nach heutigen Erfordernissen“ geschaffen, urteilte die bundesdeutsche Presse; die New York Times attestierte: „Frankfurts kulturelles Leben zieht mit dem Berlins gleich.“

Wie überall im damaligen Deutschland half auch in der Theaterdoppelanlage die staatlich verordnete „Kunst am Bau“ den Architekten, über ihren Purismus-Schatten zu springen. So kamen Frankfurts Städtische Bühnen zu jenem Kunstwerk, das nach schwierigen Anfängen inzwischen längst als Signet des Hauses anerkannt, ja geliebt wird: Die goldenen (Messing) Kumuliwolken des ungarischen Künstlers Zoltán Kemény. Pragmatiker akzeptierten die an fast unsichtbaren Stahlseilen von der Decke hängenden Rundgebilde als wirksamen optischen Kniff, der die immense, um nicht zu sagen öde Höhe des Foyers kaschiere; Kunstliebhaber feierten das Wolkengebilde sofort als jenes abstrakte Symbol für die „himmlische“ Freistatt der Kunst, als das Keménys Werk heute geschätzt wird.

Spontane breite Zustimmung fand Marc Chagalls Kolossalgemälde Commedia dell’ Arte, das die Stadt 1959 bei dem Künstler als zentralen Wandschmuck des Foyers in Auftrag gegeben hatte. Das Gemälde ergänzten in den folgenden Jahrzehnten einige Büsten einstiger Größen des Frankfurter und des deutschen Theaters sowie die von Schauspielern und Sängern, die während des Dritten Reichs wegen ihrer jüdischen Herkunft verjagt, in die Emigration getrieben oder ermordet worden waren. So gewann im Lauf der Zeit die bildende Kunst in dem kahlen Neubau ein wenig ihres ursprünglich großen Terrains zurück.

Die Rückkehr der Schmuckform

 1963 entsprach die betont sachliche Architektur dem experimentierfreudigen, zuweilen provokativen Stil, den die Intendanten der Oper und des Schauspiels in Frankfurt pflegten. Dasselbe gilt für den zweiten Höhepunkt des Hauses, als zwischen 1972 und 1980 unter der Doppelintendanz von Peter Palitzsch und Hans Neuenfels Frankfurts Schauspiel im Gefolge von 1968 ein Mitbestimmungsmodell einführte. Plötzlich war das schmucklose Äußere des Hauses, waren seine oft bespöttelte Fabrikfassade und seine demonstrativ unpathetischen Innenräume der ideale Rahmen für Experimente, die Schauspieler und Publikum zu Kollektiven zusammenführen sollten, die gemeinsam Kunst erarbeiteten.

Aufschlussreiches Randphänomen: Das Theaterrestaurant, das es nie geschafft hatte, ein wirklicher Nachfolger des einstigen Faust-Restaurants zu werden, zog plötzlich unter dem Namen „Fundus“ Besucherscharen an – nicht zuletzt, weil man den weiten Gastraum mit Requisiten förmlich vollstopfte. Alles, was die Moderne verpönt hatte, feierte triumphale Rückkehr: Plüsch und Schnörkel, Gelsenkirchener Barock und Wiener Cáfehauskringel.

Die Oper, die mit einiger Verspätung sich der Aufbruchstimmung des Schauspiels angeschlossen hatte, stieg zu einem der berühmtesten Häuser Deutschlands, wenn nicht gar Europas auf. Das erleichterte es dem Magistrat, 1986 trotz der enormen Kosten für Frankfurts neues Museumsufer die Sanierung des Zuschauerraums und des Foyers zu bewilligen. Am 30. Oktober 1987 eröffnete die sanierte Oper – das Frankfurter Architektenduo Braun und Voigt hatte, beflügelt von der Bild- und Zitierfreude der damaligen Postmoderne, unter Rückgriff auf die historischen Raumkonturen dem Raum gemäßigt expressionistische Züge verliehen. Perforierte, mit Lichtpunkt-Ketten konturierte und satt gelb eingefärbte Rangbrüstungen, die keilförmig näher zur Bühne gerückt waren, ließen Hans Poelzigs Theaterutopien der 20er-Jahre assoziieren. Ebenso die mit Punktstrahlern ausgestattete weich gestufte Decke, die sich bei Bedarf zum Sternenhimmel wandeln ließ.

„Am 12. November 1987 wurde das Bühnenhaus der Oper der Städtischen Bühnen durch einen Großbrand vernichtet.“ So lapidar liest sich im amtlichen Bericht der Frankfurter Branddirektion die größte Katastrophe, die Frankfurts Theater seit der Bombennacht des Januar 1944 ereilte. Augenzeugen berichten, dass der Brand, gelegt von einem verwirrten Obdachlosen und von einem Ionisationsmelder nachts um 3.19 Uhr gemeldet, den Eisernen Vorhang zum Glühen brachte. Trotzdem blieben dadurch der Zuschauerraum, die Wandelgänge und das Foyer leidlich geschützt. Doch die Bühne und der Bühnenturm waren nahezu vollständig vernichtet.

Alle Betroffenen reagierten schnell und unbürokratisch: Die Oper bezog das unversehrte Schauspiel, dieses verlegte seinen Spielbetrieb in das Bockenheimer Depot, ein renoviertes gründerzeitliches Straßenbahndepot, das sich zuvor schon als eindrucksvolle Spielstätte bewährt hatte.

Braun und Voigt respektive Braun und Schlockermann bauten innerhalb von dreieinhalb Jahren die Oper für insgesamt 170 Millionen Mark wieder auf. Seither zeigt sie einen noch höheren, nun konvex bedachten und mit einer silbrigen Hülle überzogenen Bühnenturm, der vom puren Nutzbau zum monumentalen Bauschmuck geworden ist. An der Rückseite des Gebäudes wurde zudem ein großzügiger Probensaal für das damalige Ballett angefügt. Entworfen nach dem Vorbild der dekonstruktivistischen Glasgebilde, die das umstrittene Architektenteam Coop Himmelb(l)au einige Jahre zuvor auf die Dächer der Wiener Altstadt gesetzt hatte, kragt der Probenraum kühn über den Baukörper hinaus, heute Denkmal eines gemäßigten Frankfurter Dekonstruktivismus – und des Balletts Frankfurt unter Leitung von William Forsythe, das 2004 aufgelöst wurde.

Beim Wiederaufbau musste schließlich doch das gesamte Interieur der Oper erneuert werden. Braun und Voigt nutzten die Gelegenheit zur Verbesserung der Akustik: Nach Entfernen der Putzdecke wurde der darüberliegende Dachraum in das Gesamtvolumen einbezogen. Für den fortan noch großzügiger wirkenden Raum wurde in Zusammenarbeit mit dem japanischen Architekten Toyo ein Beleuchtungskonzept entwickelt, das durch Computersteuerung unterschiedliche Lichtstimmungen erzeugen kann.

Notwendig gewordene zusätzliche Foyerflächen und Probenräume integrierten die Architekten in die freigelegte historische Bausubstanz des einstigen Schauspielhauses; so brachte sich nach fast 50 Jahren „Exil“ der Ursprungsbau optisch in Erinnerung.

Als im April 1991 die Oper den Spielbetrieb wieder aufnahm, startete die Renovierung des vom Hin und Her in Mitleidenschaft gezogenen Schauspielhauses. Die Pläne des belgischen Architektenbüros d’Helft/Verliefden und des hiesigen Teams Heinrici/Geiger lagen bereit. Sie brachen mit konvexen Wanddurchbrüchen, dem Umbau der Empfangstreppe zum doppelseitigen Stufenpodest und zusätzlichen Wandelgängen die vorherige absolute Herrschaft des rechten Winkels und der Sachlichkeit. Seither weist das Schauspiel eine Art „Bühne vor der Bühne“ auf, die dem Publikum Gelegenheit bietet, sich gleichfalls in Szene zu setzen. Dieser neue Zug ins Repräsentative setzt sich fort in der „Panoramabar“ der Schaufront, die inzwischen als Schaufenster des Hauses, seiner Gäste und ausgelassener Premierenfeiern eine feste Institution im Stadtbild geworden ist.

Seit 1992 läuft auch in Schauspiel und Kammerspiel der Spielbetrieb wieder ungestört. Die Bauarbeiten an Frankfurts Städtischen Bühnen aber waren damit nicht beendet. Nach einigen Jahren Pause wurde ein neues Werkstattgebäude notwendig. 2007 fiel der unzureichende alte Gebäudeteil längs der Hofstraße. An gleicher Stelle entstanden nach den Plänen von gmp Architekten neue Dekorationswerkstätten, Räume für die Kostümabteilung sowie Werkstätten für den allgemeinen Bühnenbetrieb, zudem zentrale Umkleiden, Duschen, Lagerflächen und Büros, die im September 2010 bezogen werden konnten. Derweil meldete sich noch einmal das historische Schauspielhaus zu Wort: Mitarbeiter der Städtischen Bühnen wurden 2004 von Willy Praml darauf aufmerksam gemacht, dass sich in der Naxos-Halle, einem weiteren magischen Theater, das vom Industriebau zur Spielstätte aufgestiegen ist, die beiden bronzenen Schwäne, die bis 1961 den Altbau am Main geschmückt hatten, befinden. Sie wurden kurz darauf von einer benachbarten Werbeagentur in deren Entrée installiert. Die Städtischen Bühnen würden sie gerne wieder in ihre Obhut nehmen.

Umbau und kein Ende: Im Zuge des Neubaus der Werkstätten und unter dem Stichwort „Stadteingang Sachsenhausen“ ging gmp auch daran, den Südhof zu überbauen und den Ostflügel der Städtischen Bühnen an der Neuen Mainzer Straße um zwei Geschosse aufzustocken. Auffallendstes Merkmal: Die Blockecke an der Hofstraße wurde durch eine geschlossene Stützenreihe in der Hofstraße geschlossen, die Kammerspiele erhielten einen neuen – ihren dritten – Eingang, und die zuvor hässlich bloßliegenden Hohlblocksteine der mainwärts gerichteten Außenwände wurden nach dem Muster der Seitentrakte mit gefugten Travertinplatten verkleidet.

Zum ersten Mal und obwohl fast ein Dutzend Architekten seit 1961 an der Theaterdoppelanlage tätig gewesen sind, bietet sich gegenwärtig der Riesenbau nicht nur funktional, sondern auch ästhetisch und einheitlich dar. Die Vollendung kommt zur rechten Zeit, denn künftig wird sich das Theater gegen die glamourösen Attacken der steinbeschichteten weißen Türme und Großkuben des neuen „Riverside Financial Districts“ behaupten müssen. Die Chancen stehen nicht schlecht, denn zumindest gegen den erhebenden „himmlischen“ Glanz der Kumuli von Zoltán Kemény kommt kein Werk der aktuellen Event-Dekorationskunst an. Und im Inneren – das lässt so manchen architektonischen und bildhauerischen Verlust verschmerzen – debattieren wie schon vor 250 Jahren die Zuschauer, ob die auf der Bühne „es nur spielen“.

Dieter Bartetzko (1949-2015)

Studium der Kunstgeschichte, Germanistik, Soziologie in Frankfurt am Main, Berlin, Marburg. Promotion bei Hans-Joachim Kunst zum Thema Theatralik der NS-Architektur. 1983 bis 1993 regelmäßige freie Mitarbeit in Kulturredaktionen des Hessischen Rundfunks, bei Architekturfachzeitschriften und der „Frankfurter Rundschau“. Themenschwerpunkte: Architekturkritik, Denkmalpflege und alles, was mit dem vordergründig so leichtgewichtigen Unterhaltungsgeschäft zu tun hat: von Schlager bis Chanson, von Show bis Musical. 1993 bis 1994 Vertretungsprofessur Kunstgeschichte an der Fachhochschule Mainz. Seit Juli 1994 Architekturkritiker der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. 2006 Preis für Architekturkritik des Bundes Deutscher Architekten.

Dieser Beitrag wurde erstellt für die Publikation „Ein Haus für das Theater. 50 Jahre Städtische Bühnen Frankfurt am Main“, Herausgeber: Städtische Bühnen Frankfurt am Main GmbH, erschienen beim Henschel Verlag in der Seemann Henschel GmbH & Co.KG, Leipzig 2013