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Horns Ende und In seiner frühen Kindheit ein Garten

Elisabeth Schweeger im Gespräch mit Christoph Hein


Elisabeth Schweeger: Ihre beiden Romane Horns Ende und In seiner frühen Kindheit ein Garten beschreiben Deutschland. Einmal Deutschland DDR in den 60er Jahren und einmal Deutschland West
zur Zeit der RAF. Armin Petras macht daraus einen Abend – ein Deutschlandprojekt, da es doch recht selten vorkommt, daß ein Autor zwei Sichtweisen auf ein und dasselbe Land zu werfen versucht.

Christoph Hein: Eine interessante Konzeption. Ich bin gespannt, was Petras daraus für Funken zu schlagen versteht.

Schweeger: Beide Geschichten sind miteinander verbunden.

Hein: Petras verbindet sie, das macht auch mich neugierig. Freilich, auch In seiner frühen Kindheit ein Garten spielt in Ostdeutschland. Bad Kleinen liegt ja auch im Osten.

Schweeger: Die RAF hat natürlich auch ihre Beziehungen zur DDR gehabt, paradoxerweise
haben aber auch die Regierungen in diesen Bereichen wohl zusammengearbeitet. Aber darum geht es ja gar nicht.

Hein: Nein, um die RAF geht es nicht, überhaupt nicht. Die RAF interessierte mich nie, da habe ich ein sehr klares und rasches Urteil, seit Jahrzehnten. Mir geht es darum, wie der Staat darauf reagiert. Und das ist ein Problem, mit dem wir offenbar von Jahr zu Jahr mehr zu tun bekommen. Siehe Guantanamo, siehe England. Der Staat hat die Pflicht und das Recht, Terror und Terrorismus abzuwehren, aber wie weit kann er gehen, ohne das, was er eigentlich verteidigen will, selber zu zerstören. Da entsteht einfach ein rechtsfreier Raum wie Guantanamo, die CIA-Flugzeuge, die Folter. All das passiert ja, um den Terror abzuwehren. Aber was damit zerstört wird, ist letztlich das Rechtssystem selbst.

Schweeger: Das hat mich an beiden Romanen so fasziniert: Was macht das System mit den Menschen? Es führt sie, wenn sie sich als Souveräne begreifen, im Grunde genommen automatisch in einen Widerstand hinein. Und der Staat, also der ›demokratische Staat‹,
so habe ich es zumindest verstanden oder verstehe es immer noch so, begibt sich in eine äußerst diktatorische Situation. Also im Westen kann ich es sehr genau beschreiben, daß das, was Montesquieu noch gefordert hat, also Gewaltentrennung, ja zumindest mit der Terrorbekämpfung aufgehoben worden ist.

Hein: Ja, es droht zumindest. Mit noch unabsehbaren Folgen.

Schweeger: In dem Roman In seiner frühen Kindheit ein Garten haben Sie versucht, eine zärtliche und schöne Liebesgeschichte von einem alten Ehepaar zu erzählen, das den Tod des Sohnes über den Marsch durch die staatlichen, westdeutschen Institutionen aufzuarbeiten sucht und am System zu zweifeln beginnt und daran fast zerbricht. In Horns Ende beschreiben Sie ein anderes System, das sich zwar
auch als antifaschistisch und demokratisch bezeichnet hat, jedoch auf seine Weise ebenso strangulierend auf die Gemeinschaft und den einzelnen gewirkt hat.

Hein: Ich denke auch, daß eine Sichtweise auf die sogenannten sozialistischen Länder und deren Gründungen dann falsch ist, wenn sie davon ausgeht, daß das Verbrecher waren, die das gemacht haben.
Gegründet wurden diese Staaten aus den Träumen des 19. Jahrhunderts, der Arbeiterbewegung, den Freiheits- und Gerechtigkeitsgedanken heraus. Und dann ging es darum, daß diese Freiheit verteidigt werden muß. Diese Staaten wurden mit stalinistischen Mitteln verteidigt, was jede der Gründerideen und letztlich sie selbst zerstörte. Und das droht uns jetzt in Guantanamo; in dem Rechtsstaat USA wurde ein rechtsfreier Raum geschaffen mit der guten Begründung, den Terror wirkungsvoller zu bekämpfen. Die Überwachungssysteme nehmen weltweit zu, in Deutschland überlegt
man, die Mautüberwachung auf Autobahnen für die Verbrechensbekämpfung zu nutzen. Dabei geht es also immer um die
Verteidigung von Freiheit und Freiheitsrechten, aber auch um die Frage, was zerstöre ich damit.

Schweeger: Die Frage ist doch nur, ist es überhaupt möglich, eine Utopie, die in ihren Ansätzen meistens zuerst positiv ist, in die Praxis ebenso positiv umzusetzen? Ähnlich wie Wallenstein, der die Utopie des Friedens hat, aber diese nur mit den Mitteln des alten System herstellen kann. Ist also jeder gute Ansatz zum Scheitern verurteilt? Daß man eigentlich keinen Weg finden kann, wie die Praxis zur Verteidigung der Freiheit eben wirklich der Freiheit selbst dienen kann? Die einzigen Beispiele von gewaltloser Verteidigung der Freiheit, wo das so einigermaßen funktioniert hat, das sind Nehru in Indien und Mandela in Südafrika. Aber das ist natürlich mit unheimlich persönlichen Kosten
verbunden. Keiner von beiden wußte, ob ihr Ziel aufgehen wird, aber sie wollten es ohne Gewalt erreichen, und das haben sie gemacht, bis zum Schluß. Selbst um den Preis des Gefängnisses. Aber der wirtschaftliche Druck heute ist zu groß. Die westlichen Länder müssen sich gleichzeitig gegen Indien oder China behaupten, und da wird sich Amerika nicht im geringsten nachgiebig zeigen dürfen, und auch Europa nicht. Und der effektive Weg, um die Freiheit zu garantieren, bedeutet dann auch einen Weg mit Gewaltanwendung.

Schweeger: Ja, und letzten Endes mit Restriktionen. Also mit kontrollsystemen.

Hein: Ja, dieses stalinistische »Vertrauen ist gut – Kontrolle ist besser«, das haben wir natürlich überall.

Schweeger: Könnte man behaupten, daß wir uns von dem faschistischen System noch nicht entfernt haben, sondern es sich eigentlich konsequent weiterentwickelt hat und nur subtiler geworden ist?

Hein: Das war wahrscheinlich schwer zu umgehen nach 1945. In Ost wie West konnte das alte System nicht gründlich und restlos abgebaut werden, denn es mußte sehr rasch ein neues aufgebaut werden.
Im Westen hat man ja dann auch sehr schnell die alte Justiz übernommen, die alten Lehrer und all jene, die nun gefälligst den Mund zu halten hatten, die bereit waren, sich mit der dritten Strophe des Deutschlandliedes zu begnügen. Und dabei konnte es dann bleiben. Und im Osten war es ja auch ganz schnell so, daß man die neue Fahne schwenkte, sich zur neuen Ideologie bekannte und die neue Supermacht begrüßte. Beide deutsche Staaten und ihre Bürger erwiesen sich als Musterschüler, und das war ja auch verständlich: Mit ihrer Vergangenheit mußten sie beweisen, daß sie besonders lernfähig sind.

Schweeger: Ja, aber hat man das in der DDR auch so gesehen? Bestimmte Organisationsformen waren ja einfach
eins zu eins übernommen worden, z. B. die Jugendorganisationen?

Hein: Es ging wie bei den meisten diktatorischen Systemen vor allem um die Jugend, insofern haben sie auch alles getan, um diese einzufangen und einzubinden. Und um sich vom Westen abzuheben, wollte man zu den Gewinnern der Geschichte zählen und nicht als Verlierer gelten. Man fühlte sich auf der richtigen Seite, rechnete sich selbst zur antifaschistischen Front. Die Faschisten waren woanders. Und dann schien auf einmal die ganze DDR aus dem Widerstand heraus geboren.

Schweeger: Es gab somit auch keine Rechten, keine Nazis.

Hein: Offiziell, nein. Der Widerstandskämpfer, das war das einzige, worauf sich die DDR berief. Meine Frau war Jüdin. Als sie eine Kleinstadt in der DDR besuchte, zeigte man ihr die alte Synagoge und sagte zu ihr: Also die Synagoge haben die Faschisten 1939 zerstört. Man hat aber nicht gesagt, wir, die Bürger unserer kleinen schönen Stadt waren es, sondern das waren die Faschisten, Außerirdische vermutlich. Das war die Haltung: Da gab es eine Periode, ein dunkles Kapitel deutscher Geschichte, mit der die DDR-Bürger nichts zu tun hatten. Also, der Vater war nach Möglichkeit im Widerstand, und alles andere mußte man verschweigen.

Schweeger: Also gab es auch keine Neonazis?

Hein: Offiziell und in allen Medien, nein. Es gab gelegentlich gewaltbereite Jugendliche, später gab es die Glatzköpfe, das waren Probleme, bei denen die Behörden unbarmherzig zuschlugen. Denn der große Bezugspunkt, auf den sie sich immer beriefen, war der Antifaschismus. Daß sie eben anders als Westdeutschland die Grundlagen, die Lehre gründlich ausgewechselt hatten. Man ging gegen solche rechten Tendenzen sehr entschieden vor. So etwas durfte es einfach nicht geben.

Schweeger: Es wurde tot geschwiegen.

Hein: Ja, und ich denke, das war einer der Gründe, warum das dann 1989 so richtig heraus brach. Alles, was man unter den Teppich kehrt, bricht eines Tages hervor. Mit Verboten allein kann man einen Staat nicht regieren. Die Schwierigkeiten hinter Gitter bringen, das ist eine sehr naive und eine einfältige Staatsdoktrin. Und als es mehr Probleme gab, als hinter Gitter zu verbringen waren, wurde das Ganze nicht mehr haltbar. Und plötzlich zeigte sich all das, was nie verschwunden, sondern lediglich verdrängt worden war.

Schweeger: Haben Sie das Buch In seiner frühen Kindheit ein Garten im Hinblick darauf geschrieben, daß Sie dieses andere System unter die Lupe nehmen wollten? Entsprach das einem Bedürfnis, eine Gegensetzung zu machen? oder entstand das einfach nur nach der öffnung des Landes, sich mit dem Thema auseinanderzusetzen?

Hein: Also, die anfänglichen Gründe bei so einer Arbeit sind doch immer sehr intime, das kann ein Satz oder auch nur ein Geruch sein, Dinge, die ich Dritten kaum vermitteln kann. Ich hatte über die Vorgänge um Bad Kleinen in der Zeitung gelesen und fand die Reaktion des Staates, der verschiedenen Staatsgewalten befremdlich. Nach drei Jahren habe ich mich schließlich so sehr dafür interessiert, daß ich mir mit Hilfe von
Anwälten die Akten der verschiedenen Prozesse besorgte. Die habe ich ein halbes Jahr lang studiert, weil ich irgendwas daraus machen wollte, habe dann aber zunächst erst einmal aufgegeben, weil ich für mich keine Möglichkeit sah, aus dem Dokumentarischen herauszukommen, was mich nicht interessierte. Aber irgendwie ließ mich dieses Thema nicht los. Drei, vier Jahre später kam ich für mich auf die Lösung, nur das, was auf dem Bahnhof passierte und die Prozesse wie einen Film im Hintergrund ablaufen zu lassen und den ganzen Rest völlig frei zu erfinden. Somit konnte ich mit der Freiheit eines Romanciers und mit meinen Mitteln und Möglichkeiten mit den Personen umgehen, was ich bei historischen Figuren nie hätte machen können. Es ist aber nicht so, daß für mich jeweils nur das Thema wichtig ist, sondern da müssen schon andere Aspekte hinzukommen. Insofern war für mich ganz zentral bei der Entstehung des Stoffes die Liebesgeschichte eines Paares, das 50 Jahre älter ist als Romeo und Julia, also etwas ungewöhnlich für Liebesgeschichten. Diese Liebesgeschichte eines älteren Paares interessierte mich. Der Rest ist dann eher Zufall, man hat als Autor vielleicht bestimmte Themen, von denen man gar nicht loskommt. Das Thema sucht sich seinen Autor, nicht umgekehrt, auch wenn der Autor glaubt, er habe die Wahl.

Schweeger: Bekanntlich schreibt der Leser einen Roman oder auch ein Theaterstück selbst weiter. Das ist eigentlich das Wunderbare daran. Ich finde, was so berührend war an der Geschichte, daß man eben durch diese Liebesgeschichte sieht, in welchem kontext man existiert. Und was das auch für beklemmende Auswirkungen hat. Das war schon bei Horns Ende so, daß man stets das Persönliche gesehen hat, in das das politische System immer wieder einbrach.

Hein: Ja. Das entspricht auch meiner Sicht, aber ich denke, daß staatliche Gewalt und überhaupt der Staat, die Politik, so wie in Horns Ende, nur punktuell bemerkbar sind. Wenn ich in einer Kleinstadt lebe, habe ich mit dem Staat nichts zu tun und nur gelegentlich erwischt er mich. Durch Steuererhöhungen etwa oder dadurch, daß auf einmal drei Panzer durch die Stadt fahren. Gelegentlich habe ich also mit dem Staat zu tun, aber ansonsten versuchen die Leute, ein ganz anderes Leben zu führen, unabhängig vom Staat, frei von ihm. Man vermeidet im allgemeinen die Nähe zur Macht. Und das unterscheidet sich auch in den verschiedenen Staaten nicht. Einer der heftigsten Vorwürfe bei Horns Ende in der DDR war, daß ich ein Leben schildern würde, als ob es 1945 gar nicht gegeben habe. Ja, so ist es nun mal. Die Leute heiraten, erziehen Kinder und versuchen, in einem Beruf erfolgreich zu sein, und das ist genauso vor 45 gewesen wie auch nach 45. Und das hat die staatlichen Stellen in der DDR geärgert, weil ich da keinen Bruch aufzeige. Die DDR wollte natürlich auch wie der Westen diese Stunde Null. Aber diese Stunde Null gibt es für mich weder ästhetisch noch philosophisch noch weltanschaulich. Die hat es 1945 nicht gegeben, die hat es in der menschlichen Geschichte nur ein einziges Mal gegeben, vor tausenden von Jahren.
Alle spätere Geschichte, jedes spätere Ereignis war dann die Folge einer Folge einer Folge. Aber gerade weil diese Stunde Null wieder einmal ausgerufen wurde, hatten wir im Osten wie im Westen die entsprechenden Probleme. Alles wurde zugedeckt, um dann im fatalsten Moment wieder aufzutauchen.

Schweeger: Dadurch hat man sich natürlich die Möglichkeit genommen, zu erkennen, wie man aus diesem ganzen System wieder rauskommt. Man lebt in einer Chimäre, zumindest in einer Behauptung. Ja. Ich würde vielleicht noch böser sagen, daß man das vielleicht gemacht hat, weil man auch wußte, man kommt gar nicht raus, denn ich kann diese Leute aus dem alten System nicht austauschen.

Schweeger: Bruno Kreisky hat das vollkommen klar gesagt damals in Österreich: Wenn ich alle Nazis rausschmeissen würde, blieben in österreich nur noch wenige Leute übrig. Also muß ich mit ihnen operieren.

Hein: Da hatte Kreisky völlig recht. Daß wir heute Philosemiten sind, ist nur die andere Seite der gleichen Medaille. Wir sind Philosemiten, weil der Antisemitismus zur Zeit nicht en vogue ist, aber unsere Xenophobie ist uns geblieben, und der Antisemitismus ist nur eine Spielart von diesem, den gab es auch dort, wo es gar keine Juden gab.

Schweeger: Klar. Die Frage ist nur, wie man damit umgehen kann. Ich fürchte, es wird wieder schlimmer. Gerade als Folge der Globalisierung. Es werden Formen von Identitäten gesucht, und die werden nicht in
neuen Strukturen gesucht, sondern in alten und üblichen.

Hein: Unter anderem auch deswegen, weil wir die Globalisierung – möglicherweise geht das auch gar nicht anders – nur als ein wirtschaftliches Unternehmen erleben. Das Individuum – zumindest das in der sogenannten ersten Welt – hatte seine Globalisierung bereits, es konnte in jedes Land fliegen, um Urlaub zu machen, es konnte aus jedem Land der Welt die Waren kaufen, die es wünschte, zumeist auch noch zu einem geringen Preis. Mit dem Fall der Mauer entdeckte die Wirtschaft ihre Möglichkeiten. Nach den Konsumentenparadiesen, wo man billig leben und einkaufen konnte, sehr billig, entdeckte man die Wirtschaftsparadiese, wo man sehr billig produzieren kann. Und die Globalisierung geht rasch weiter, aus den vormals drei Welten entsteht langsam eine Welt, eine einzige Welt mit einem vergleichbaren Lebensniveau. Das heißt, weltweit gleiche oder vergleichbare Löhne, Arbeitsbedingungen, Lebensqualität, und das heißt auch: Verluste in der ersten Welt, Zugewinne für die zweite und vor allem für die dritte Welt, denn dieses einheitliche Lebensniveau wird nicht in der uns vertrauten Höhe liegen, sondern sehr viel tiefer sein, möglicherweise unerträglich tief für uns.
Aus dem alten »Für alle reicht’s nicht«, mit dem die erste Welt Jahrzehnte gut leben konnte, wird ein »Für alle fast nichts«, wogegen wir uns heftig wehren. Die zweite Welt und die dritte Welt sehen und nutzen nun ihre Möglichkeiten, und für uns zerbricht eine überkommene, gewohnte Ordnung. In der zweiten und dritten Welt entstehen Hoffnungen, in der ersten wachsen die Ängste. Wir erleben es in Europa, in Ost- wie in Westeuropa, daß jetzt die nationalen und die nationalistischen Parteien Zulauf haben.

Schweeger: Ja. Beispiel Polen, oder?

Hein: Ja, und das hat mit Ängsten zu tun. Jetzt soll ich auf einmal Europäer sein? Es ist einfach lächerlich. Wer kann von sich sagen, er sei wirklich Europäer? Wir sollen alle Weltbürger sein und stecken mit all unseren Wurzeln tief in unserer Provinz, im Provinziellen, alles andere sind Träumereien. Ich kenne aus der jüngeren Geschichte nur zwei wirkliche Europäer: Napoleon und Hitler. Die beiden sahen keine Grenzen.

Schweeger: Napoleon hat immerhin ein Rechtssystem entwickelt, auf das wir uns heute noch berufen.

Hein: Das hat Hitler auch gemacht und gewollt. Wenn auch richtig verbrecherisch. Die Intelligenz der anderen Völker sollte zerstört werden, damit das Arbeitspotenzial für die Herrenrasse genutzt werden kann. Das Napoleonische ist auch nicht großherziger gedacht, aber weniger verbrecherisch. Aber für beide war Europa die Wohnstube. Bei Napoleon noch viel stärker.

Schweeger: Man sollte sich daran erinnern, daß kaiser karl V. ganz Europa beherrscht hatte.

Hein: Das Problem der Globalisierung ist, daß wir nicht einmal eine europäische Gesetzgebung zustande bringen, keine verbindliche, keine, an die sich auch nur ein europäischer Staat wirklich halten muß. Karl V. und Napoleon hatten aber dieses verbindliche System. Jetzt aber haben wir überhaupt kein Rechtssystem mehr, das zugreifen kann. So daß die Wirtschaft zum Beispiel frei wirken und somit auch ihre eigenen Gesetze machen
kann. Was in Deutschland nicht funktioniert, wird nach Polen ausgelagert, und wenn es da auch nicht funktioniert, dann geht man nach China. Es wäre aber wichtig für die Globalisierung, ein System zu haben, das einen bestimmten Einfluß auf die Wirtschaft nehmen kann, im Sinne einer sozialen Marktwirtschaft. Eine Instanz, die über der Wirtschaft steht und diese bestimmt. Im nationalen System konnte dies noch der Staat sein, das ist aber jetzt vorbei. Wenn die Konzerne immer mehr wollen, dann steht der einzelne Nationalstaat hilflos davor und Europa auch.

Schweeger: Brauchen wir also wieder den autoritären Staat?

Hein: Nein, aber Wettbewerb und ein funktionierendes soziales System.
Der Kapitalismus war in einer glücklichen
Situation, als es auf der anderen Seite den Sozialismus gab, denn da war Wettbewerb, und Wettbewerb ist das Element des Kapitalismus. Seitdem das sozialistische System zusammenbrach, gibt es diesen Wettbewerb nicht mehr, und die wirtschaftliche Entwicklung verläuft jetzt völlig ungehemmt in einer Art und Weise, die für mich selbstzerstörerische Züge trägt. Ich kann alles noch viel billiger produzieren, ich finde immer noch billigere Arbeitskräfte.

Schweeger: Und die Politik ist ohnmächtig.

Hein: Wie sagte Karl Kraus: »Sie glaubten, sie seien an der Macht, sie waren aber nur an der Regierung.«

Christoph Hein, geboren 1944 in Heinzendorf/Schlesien, aufgewachsen in Bad Düben/Sachsen, konnte als Pfarrerssohn in der DDR das Abitur nicht ablegen. Er besuchte deshalb – vor dem Mauerbau – ein Gymnasium in Berlin (West). Nach dem Mauerbau arbeitete er in verschiedenen Berufen und studierte. Hein hat zahlreiche Romane, Novellen, Erzählungen, Theaterstücke und Essays veröffentlicht und ist mit renommierten Literaturpreisen ausgezeichnet worden.