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NATHAN DER WEISE

Jens Groß: Über Lessings "Nathan"


„Schön ist ein Ding, wenn es der Absicht entspricht“ (Lessing)

1. Der gute Mensch in der besten aller denkbaren Welten

„Nathan der Weise“ ist Lessings letztes Stück und wurde in einer für Lessing äußerst schwierigen Lebensphase geschrieben. Zum einen ist unmittelbar vor Arbeitsbeginn seine geliebte Frau Eva König und sein langersehnter Sohn an einer zu schweren Geburt verstorben. Lessing formulierte seine Stimmung in einem Brief: „Meine Frau ist tot: und diese Erfahrung habe ich nun auch gemacht. Ich freue mich, daß mir dergleichen Erfahrungen nicht mehr übrig sein können zu machen; und ich bin ganz leicht.“
Zum anderen lebte Lessing zu dieser Zeit einsam und intellektuell isoliert als Hofbibliothekar in Wolfenbüttel und hatte sich im sogenannten Goeze Streit, in einer öffentlichen theologischen Auseinandersetzung zu weit vorgewagt und wurde vom Braunschweiger Landesfürsten mit einem Publikationsverbot belegt. Er formulierte in einem anderen Brief mit einem Verweis auf Nathan, daß er doch sehen wolle, ob man ihn auf dieser Kanzel nicht doch noch predigen lasse.
Als dogmatische, knochentrockene und schwerst moralische Predigt haben die meisten von uns das Stück dann zumeist auch in der Schule kennenlernen müssen. Das Stück galt und gilt noch immer als das Paradestück der Aufklärung, weil es angeblich so utopisch, optimistisch und versöhnend ist. Lessing scheint es gelungen zu sein, die notwendige Toleranz und den Respekt von jeweils Andersgläubigen untereinander so zu beschreiben, daß ei friedliches Zusammenleben von multikulturellen Gesellschaften möglich scheint. In diesem Sinne ist „Nathan der Weise“ natürlich auch und besonders für heute wieder ein wichtiges Stück. Doch ist das Stück tatsächlich so positiv, wie es auf den ersten Anblick scheint? Die Umstände, aus denen Lessing heraus dieses Stück geschrieben hatte, lassen da schon einige Zweifel aufkommen.
Zwar nannte Leibniz kurz vor Lessing die Welt, die beste aller denkbaren Welten. Lessing aber hat sein dramatisches Gedicht 1778 in Wolfenbüttel kurz nach der Unabhängigkeitserklärung der amerikanischen Oststaaten und zehn Jahre vor der Französischen Revolution geschrieben. Unruhige aufklärerische Zeiten also, die gar nicht nach der besten aller denkbaren Welten klangen, die aber möglicherweise nach positiven Utopien gierten. Das ist zweihundertfünfundzwanzig Jahre her, trotz der ganzen Aufklärung und trotz dieses Stückes ist die Welt keinen Deut besser geworden.
An die beste aller denkbaren Welten glauben wir schon lange nicht mehr, an die Aufklärung als Überwindung von Intoleranz und Vorurteilen glauben wir eigentlich auch nicht mehr so wirklich und dennoch scheint uns das vermeintliche Gut-Sein eines Nathans, den das Stück den Weisen nennt, keinesfalls zu stören, ganz im Gegenteil. Man spielt das Stück, trotz immer wieder vermißter dramatischer Höhepunkte. Die Süddeutsche Zeitung wetterte gegen das Stück erst 1998: „Nathan ist weit langweiliger, weit unwahrscheinlicher konstruiert als jeder Racine-, Moliere-, oder Corneille-Text“. Man ist sich so irgendwie darüber einig, daß der „Nathan“ ein wesentlicher deutscher Klassiker ist, ohne genau begründen zu können warum. „Nathan“ gilt als unsinnliches, sehr theoretisierendes Stück. In der Regel ermüdet man schnell vor der scheinbar unenedlichen Güte der meisten Mitwirkenden und der stur verlaufenden fünfhebigen Jamben. Ein Klassiker vielleicht halt auch nur deswegen, weil er nach den Ereignissen von 1933-1945 sich so furchtbar gut als deutsches Versöhnungsstück verkaufen lies. Doch wenn man der Süddeutschen Zeitung vom 17. April 1998 glauben darf, dann sticht auch dieses Argument längst nicht mehr, da „Nathan wie der bessere Mendelssohn auftritt, wie ein als Jude verkleideter deutscher Philosoph (...) während in unserem Nachbarland (Frankreich) eine geradezu besorgniserregende Flut von Nathan- Aufführungen präsentiert wird – vielleicht nur um zu offenbaren, wie schlicht didaktisch und wie wenig poetisch der Deutsche Toleranz predigte, so als wäre er ein Pfarrer “.
Man muß dem Kritiker der Süddeutschen Zeitung zugute halten, er hat die bevorstehende Aufführung des Stückes am schauspielfrankfurt unter der Regie von Karin Neuhäuser nicht gesehen. Vielleicht würde seine Meinung über Lessing dann etwas milder ausfallen.
Unser oberstes Ziel ist es zumindest, diesem (auch) in Ehrfurcht erstarrten
Ungetüm seine gedankenschweren Last zu nehmen. Nein, keineswegs, um das Stück zu entstellen oder mutwillig zu verändern, eher um eine tiefer gelegene Schicht des Stückes freizulegen, auf die obiges Zitat von Lessing verweisen könnte: ich bin ganz leicht. Es kam uns nicht zuletzt darauf an, die auch im Stück vorhandenen aber viel zu selten gesehene kommödiantische und spielerische Ebene des Stückes wiederzuentdecken, indem wir es nicht als „echtes“ und „wahres“ Historiendrama verstehen, sondern eher als ein Märchen und damit als spielerisches Material für eine Gruppe von heutigen Schauspielern, die sich in einer ausweglosen Situation daran erinnert, daß das Theater einmal etwas zu verhandeln hatte.

Nathan sollte bei uns nicht die überlegene, alle überragende und übermenschlich weise Figur der letzten zweihundert Jahre sein, sondern eine eher erschütterte Existenz in unlösbaren Konflikten. Darin ist „Nathan“ so aktuell wie immer, und natürlich gibt es viele gute Absichten. Nur, die Ausgangsfrage für diese Inszenierung ist entschieden anders, als zu ihrer Entstehungszeit: was wäre, wenn die Aufklärung sich geirrt hat, und der Mensch von Natur aus gar nicht so gut (vor allem nicht so gutgelaunt) ist, wie man immer meinte? Diese Fragestellung sollte allerdings keineswegs von vorneherein eine eindeutige Antwort mitintendieren.
Lessing läßt im Jerusalem des 12. Jahrhunderts Menschen verschiedenen Glaubens aufeinandertreffen. Die Hauptstadt der drei größten Weltreligionen. Eine Stadt, eine Oase ? Ein Ghetto ist das in jedem Falle, inmitten einer Wüste, ein merkwürdig landschaftsloser, grabähnlicher nur für uns (den Zuschauer) geschaffener Raum der Behauptung. Doch Ghetto / Oase für wen? Wenn man Nathan einmal ausnimmt, von dessen Innerstem, von seinen Wünschen, Ängsten, Sorgen man erstaunlich wenig erfährt, scheint jede weitere Stückfigur nur auf ihren eigenen Vorteil aus zu sein. Niemand weiß Wahrheiten zu erkennen, geschweige denn damit umzugehen. Jeder auf seine Weise treibt sein eigenes Ränkespiel. Alle Mitwirkenden scheinen Spieler zu sein. Jeder scheint es darauf abgesehen zu haben, den anderen erpressen oder beseitigen zu wollen: Da sind zunächst der moslemischen Sultan Saladin und seine Schwester Sittah. Irgendwie sind sie traurige Figuren. Saladin hat nur gelernt, Krieg zu führen, hat aber kein Geld zu weiteren Kriegstätigkeiten. Sein plötzlich auftauchendes philosophisches Interesse ist nichts weiter als das eines Nebenstunden- oder Nachtischphilosophen, der die Vorstellung eines persönlichen Gewinnes braucht, um sich mit diesen Fragen zu beschäftigen. Fast kindlich versucht Saladin, die Utopie einer in Frieden lebenden Menschheit mit seinem Traum die Welt zu beherrschen zu verbinden. Gelenkt wird er allerdings von seiner sich langweilenden Schwester Sittah, die ihm die spielerische Idee eingibt, den Juden in eine Position zwischen den beiden anderen Konfessionen zu manövrieren, aus der er sich nur noch mit billigen Krediten freikaufen kann, ein Anschlag, der zu der berühmten Ringparabel, dem dramatischen Zentrum des Stückes führt, der Humanitätsbotschaft. Neben dem schon erwähnten reichen, aber griesgrämigen Juden Nathan und dessen angenommener Tochter Recha, die – wie man im Verlauf des Stückes erfährt jüdisch aufgezogen, aber die Tochter eines Moslems und einer Christin ist, spielen drei Christen eine entscheidende Rolle. Der christliche, aber dogmatisch blindwütende Patriarch, der den Juden so oder so „verbrannt sehen will“, der junge Tempelherr, der Recha aus dem Feuer rettete und Daja, die strenggläubige Gesellschafterin des christlichen Pflegekindes, das Recha in Wahrheit ist, im Hause des Juden. Daja vor allem lebt mit einer Lüge und unerträglichen Gewissensbissen, nicht zuletzt auch von den kleinen Erpressungen Nathans. Sie wird bestimmt von der Sehnsucht nach geordneten (europäischen) Verhältnissen. Das unvermutete Auftauchen des jungen, in seiner Einsamkeit herumirrenden Tempelherren, der durch den Verlust seines Schwertes seine ganze Identität verloren zu haben scheint, erweckt Hoffnungen bei Daja. Nun endlich habe ihr Gott ein Einsehen und habe einen Engel gesendet, damit sich alles zum Guten wende. Der „Engel“ Tempelherr wehrt sich allerdings gegen seine beginnende Liebe zu einer Jüdin. Daja verrät dem Tempelherrn die wahre Herkunft ihres Schützlings, nicht zuletzt, um sich eine Option auf die Heimkehr nach Europa zu sichern. Nathans humane Tat, durch den Tempelherrn dem Patriarchen von Jerusalem offenbart, könnte ihn nach geltendem Recht auf den Scheiterhaufen befördern. Die Ereignisse überschlagen sich. Die Kinder wollen zueinander, komme was da wolle, der Patriarch will Nathans Kopf, Saladin will Nathans Geld.
Keine gute Konstellation um als Minderheit zu überleben. Doch Wunderbares geschieht: Nathan entdeckt, Recha und der Tempelherr sind Geschwister und obendrein auch noch Nichte und Neffe des Sultans und seiner Schwester Sittahs. Ende gut, alles gut? Das Stück endet in der vielbelächelten Regieanweisung „Unter stummer Wiederholung allseitiger Umarmungen fällt der Vorhang“.
Ein Familienstück also. Draußen toben die Dramen im Wüstenwind. Drinnen wird über Toleranz geredet und Frieden gemacht. Eine Familie und viele verschiedene Welten werden zusammengeführt. Jetzt müssen sie miteinander leben, was sich höchstwahrscheinlich als schwieriger erweisen wird, als gegeneinander zu kämpfen. Der blauäugige Kampf jedes gegen jeden macht das Stück für den Zuschauer heiter.
Lessings perfide List gegen die ´tierische´ Seite des Menschen ist die Entdeckung am Ende des Stückes, daß fast alle mit allen verwandt sind. Zwar kommt es damit nicht mehr zur erwarteten und erwünschten Heirat zweier Liebenden, aber das gegenseitige Mißtrauen und Morden muß damit enden. Lessings merkwürdiger Schluß begründet sich aus dem idealistischen Glauben der Aufklärung, daß der Mensch an sich gut sei und daher die Zukunft der Menschheit durch die „Erziehung des Menschengeschlechts“ (unter anderem zu ´Toleranz´) positiv zu gestalten sei. Der gute Mensch strebt in der besten aller denkbaren Welten immer nur zur Vervollkommnung. Ein brüchiges Konstrukt wie wir heute wissen. Und Lessing selbst hat diese Brüchigkeit voller Skepsis seinem Märchenspiel eingeschrieben.
Der vielbeschriebene und aufklärerische Vernunftgedanke wird am deutlichsten in der sich am Ende umarmenden Familie um Recha herum. Für Lessing ist die Welt irgendwie sittlich geordnet, auch wenn der Mensch das auf Anhieb nicht unbedingt erkennen muß und kann. Die Vernunft wird die harmonischen Strukturen der Welt irgendwann von selbst erkennen.
Recha ist nicht die wirkliche Tochter Nathans, also kann er sie nicht behalten, aber auch der Tempelherr kann Recha nicht bekommen, denn sie ist seine Schwester. Recha hat es (wie Nathan) schwer in diesem Stück, denn in ihr wird das ganze Toleranzprinzip von Lessings Aufklärung verkörpert. Sie ist Tochter eines Moslems, Tochter einer Christin und erzogen von einem Juden. Das Toleranzprinzip wird in der Umarmung am Ende konsequent zu Ende geführt. In einer Familie unter Vernunftbegabten hat man sich eben zu umarmen, so schwer das einem auch manchmal fallen mag.
Die gegenseitigen Umarmungen verleiten leicht dazu, den Sieg der Toleranz über die Probleme und Verwirrungen unterschiedlicher Glaubenslehren aus dem Stück zu erklären. Der Entwurf zu einer möglichen besseren Welt? Wohl kaum. Trotz der Umarmungen bleiben am Ende alle einsam, bleiben alle Probleme ungelöst. Oder wäre das sich liebende und sich begehrende Paar, das plötzlich zu einem Geschwisterpaar geworden ist, ernsthaft glücklicher zu nennen? Was empfindet der Jude Nathan, der alleine und ohne Familienzugehörigkeit am Ende übrigbleibt? Der am Ende alleinstehende Jude galt natürlich in nationalsozialistischen Zeiten als Beleg dafür, daß der Jude eben nicht assimilierbar ist. Hat die große Metapher, daß alle Menschen eigentlich Mitglieder einer Familie sind, nicht den Haken, daß sie dann auch in letzter Konsequenz zeugungsunfähig sind? Die Menschenfamilie braucht für seine Erneuerung das Fremde, das Andere, wofür in diesem Stück sicherlich der über Jahrhunderte verfolgte und dennoch übrigbleibende Jude am Ende folgerichtig auch außerhalb der sich erkennenden Familie steht.
Doch bedeutet dieses letzte Bild noch mehr.

2. Der alleinstehende Jude am Ende des Stückes und die Religionen als das andere? oder
Warum nennt Lessing sein Theaterstück ein dramatisches Gedicht?

Für mich, einen bekennenden Nichtgläubigen, vor allem also auch einem Nicht– Juden, der vom Judentum eigentlich keine Ahnung hat, gibt es in dem Stück eine äußerst religiöse und darin spezifisch jüdische Komponente, die ich Ihnen hier kurz darstellen und zur Diskussion stellen will, da sie für den Inszenierungsansatz von Karin Neuhäuser von entscheidender Bedeutung ist.
Sicherlich ist es nicht ganz abwegig, den lebenslangen Freund Lessings Moses Mendelssohn als Vorbild im Nathan zu sehen, dem der Autor sicherlich auch ein Denkmal setzen wollte. Und dennoch stehen für mich weniger die Person Mendelssohn als vielmehr ein paar spezifisch jüdische Eigenarten im Vordergrund, die Lessing über Mendelssohn kennen und schätzen gelernt haben mußte und die –weitgehend unerkannt – wie selbstverständlich in den Nathan mit eingeflossen sind.
Schon in dem frühen Schauspiel „Die Juden“ gesteht Lessing den Juden eine verteidigens- und schützenswerte Besonderheit zu. Dort ging es vor allem darum, zu zeigen, daß es möglich ist, daß es überhaupt einen guten Juden gibt. Wenn es möglich ist zu beweisen, daß es einen guten Juden gibt, dann müßte jeder vernünftige Mensch erkennen, daß die Vorurteile gegen die Juden ungerechtfertigt sind.
Im Nathan geht Lessing weit über diese Anfangsthese hinaus. Möglicherweise hat Lessing erkannt, welches Potential im Dialog mit dem Judentum (und anderen fremden Kulturen) für die deutsche, nationale aufgeklärte Kultur liegen könnte.
Nicht nur, daß Lessing einen Juden zum Titelhelden eines so gewaltigen Schauspieles macht, verweist auf seine Affinität zum Jüdischen, sondern noch viel mehr seine Untertitelung des Stückes als dramatisches Gedicht. Um diese Behauptung zu erläutern, muß ich einen kleinen Exkurs über das Denken Moses Mendelssohns, dem besten Freund Lessings und einflussreichsten Popularphilosophen seiner Zeit hier einfügen.
Offensichtlich geht es in dem Stück nicht zuletzt um Religionen. Man sollte nicht vergessen, daß Lessing aus einem theologischen Elternhause stammte und daß er seinen Nathan nach einem theologischen Streit begonnen hatte. Vielleicht also stehen Kunsttätigkeit und Religionsausübung sich viel näher, als wir es heute gewöhnlich im Nathan sehen wollen.
Für Moses Mendelssohn gab es jedenfalls keinerlei Anlaß Kunst- oder Religionsausübung voneinander zu unterscheiden. Für Mendelssohn war das leicht, denn anders als das Christentum kennt der jüdische Glaube kein Dogma, das durch Kunstausübung verletzt werden könnte. Das Judentum hat göttliche Gesetze, Gebote, Befehle, Lebensregeln, Unterricht vom Willen Gottes, aber keine Lehrmeinungen, keine Heilswahrheiten, keine allgemeinen Vernunftsätze. Die jüdische Religion kennt – ich zitiere hier Mendelssohns - „Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum“ - keine toten Handlungen, keine Gesinnung, kein Werk ohne Geist, keine Übereinstimmung im Tun ohne Übereinstimmung im Sinn. Das ganze Leben wird also bestimmt von Glaube, Gesetz und Gebet, Begriffe, die man im Verständnis des 18. Jahrhunderts wirkungsästhetisch auch mit den Begriffen Aufklärung, Kultur und Bildung gleichsetzen könnte.
Soweit ich weiß, gibt es bisher noch keine ernstzunehmende Untersuchung inwieweit die Ideen des Philosophen Mendelssohn tatsächlich in Lessings Werk mit eingeflossen sind. Hier ist natürlich auch nicht Zeit und Raum genug, um das mit der nötigen Aufmerksamkeit zu tun. Doch ich möchte zumindest die Behauptung aufstellen, daß das übergroße Interesse Lessings an der Toleranz, die zu einem Hauptbegriff der Aufklärung werden sollte, sicherlich durch die Freundschaft mit Mendelssohn mit geprägt wurde. Eben das Streben nach Toleranz und Harmonie bestimmten das Denken und Wirken des jüdischen Philosophen und sind aus der jüdischen Tradition auch schnell erklärt. Ein weiterer für Lessing bestimmender Begriff wurde der ebenfalls von Mendelssohn vorgegebene Terminus: Diskussion.
Mendelssohn ging immer von der Voraussetzung aus, daß das Potential zur Realisierung einer aufgeklärten und humanen Welt in jedem Menschen wesentlich (von Gott vorstrukturiert) bereits angelegt ist und daß es darum gehe, das bereits Angelegte (am besten in Gemeinschaftsarbeit) zu aktivieren, zu entfalten und zu steigern. Und dabei war dem Popularphilosophen das rein Theoretische äußerst suspekt. Er plädierte immer für eine Praxis zu der auch die Diskussion, der Dialog oder die Zwiesprache zu zählen ist. Harmonie und Vervollkommnung ist nur über den ständigen Austausch und Wechsel von einem zum anderen zu erreichen. Nur der gelingende Dialog wird von Würde und Respekt geleitet. Das Gespräch, die Diskussion und der Dialog ermöglichen es dem Menschen, etwas von der gottgeschaffenen Harmonie und die anzustrebende Vervollkommnung zu erfahren. Man kann aus dieser Beobachtung die These ableiten, daß es zumindest für Mendelssohn daher keinen wirklichen Unterschied zwischen Kunstwerk und Gottesdienst geben kann. Beides dient immer nur als lebenspraktische Übung, um Erfahrung und Bildung zu erhalten und untereinander auszutauschen, mit dem Ziel die menschliche Existenz zu vervollkommnen, indem es das Verständnis für die menschliche Natur in Nachahmung und Erfahrung Gottes erweitert.
Durch den mehr oder weniger öffentlichen Austausch im Gespräch, im gemeinsamen Erleben kommt es zu „gemeinschaftlicher Erbauung“, die auch die wesentliche Absicht religiöser Gemeinschaften und ihrem rituellen Tun ist. Das erklärt sich grundsätzlich aus dem Phänomen Kommunikation, die nicht nur eine Art und Weise des Redens und Austauschens von Informationen beschreibt, sondern vor allem auch intensive gemeinsame Erfahrung, die als solche schon Transzendenz ist. Kommunikation ist nicht nur eine der möglichen Formen der Transzendenz, sondern ist hier ihr ursprünglicher Modus.
Kommunikationsformen allerlei Arten werden natürlich auch im Nathan vorgeführt. Was Kommunikation, z.B. ein Gespräch bewirken kann, zeigt Lessing am eindruckvollsten an der Begegnung von Saladin und Nathan und der Erzählung der Ringparabel. Ausgehend von dem skeptischen Befehl Saladins über die beste Religion zu diskutieren, entfaltet sich ein großer Moment des gemeinsamen Erlebens, ein Moment der Bildung und Veränderung von Menschen. Zuerst ist da die Falle, das Mißtrauen zwischen den beiden Kontrahenten, dann der zögerliche, fast angstvolle Beginn der Erzählung, die ganz schnell zu einem unbefriedigenden Ende gelangt zu sein scheint. Der Unmut des Fürsten, dann der beiläufig beginnende Nachsatz Nathans, der sich in einer Inszenierung möglicherweise zu einem gemeinsamen regellosen Spiel, einer begeisterten gemeinsamen Raserei formulieren läßt. Saladin läßt sich offensichtlich von der Geschichte beeindrucken, leidet mit, setzt Nathan den Turban auf, steckt ihm seinen Säbel zu, damit dieser überzeugender den Richter darstellen kann, bis beide sich beinahe in ihrer Erschöpfung in die Arme fallen. Von nun an ist Nathan Saladins Freund. So könnte man diese Szene inszenieren. Karin Neuhäuser tut das nicht, obwohl oder gerade weil auch für sie diese Parabel im Zentrum der Interpretation steht. Bei unseren ersten Gesprächen hatte sie immer wieder formuliert, dass sie nicht wisse, ob man diese Parabel heute überhaupt noch zu Ende erzählen darf und kann. Diese Geschichte von den drei Ringen, die die drei Weltreligionen darstellen, beschreibt, die Unmöglichkeit den oder die Richtige herauszufiltern und formuliert die Hoffnung, dass es möglich sei, dass die Konkurrenten in gegenseitiger Toleranz und Respekt friedlich nebeneinanderleben. Ein hoher moralischer Anspruch, der leider nur wenig logisch aus der Geschichte selber heraus abzuleiten ist. Wie soll man das heute noch erzählen? Auch Karin Neuhäuser hat sich letztendlich dazu durchgerungen, diese Geschichte ganz zu erzählen, vielleicht nur ganz anders zu erzählen. Sie hat sich dazu entschieden, diese eigentlich kleine Geschichte noch mehr in den Vordergrund des Dramas zu stellen: Die Ringparabel wird mehrmals in dieser Inszenierung auftauchen. Sie wird am Anfang bereits als gemeinschaftliches Gebet, als Klage und/ oder sehnsuchtsvolle Erinnerung gemurmelt, die chorische Gemeinschaft übernimmt dann auch Nathans „Geschicht´chen“ als er vor Saladin nicht mehr weiter weiß und formuliert den Schluß der Geschichte damit als wütende, fast pamphletartige Forderung der Masse gegen die ständigen Zweifel der Individuen. Karin Neuhäuser führt also einen Chor, eine Gemeinschaft ein, mit der Lessing zwar spielt, die er aber explizit niemals zulässt, sie inszeniert damit die Geschichte auf zwei Ebenen in zwei übereinandergelagerten Räumen. Sie formuliert eine heutige (von Gott verlassene?) Welt, die sich einer alten Fabel (vom weisen Juden und möglicher Toleranz) erinnert, sie formuliert die schweigend fassungslose Welt, die vor dem Loch des „Ground Zero“ oder einer „Null-Fläche“ herumsitzt und den goldenen magischen Boden, der daraus wieder erwachsen könnte, wenn man nur endlich anfinge, gemeinsam zu spielen. Neuhäuser / Lessing führen es hiermit vor: Theater und Theaterspielen ist im Prinzip ein idealer Ort für die oben angesprochene Kraft der Kommunikation, der Ort des Zusammenkommens, der Ort für Auseinandersetzung, der Ort der Utopie und damit einer möglichen Veränderung durch das gemeinsame „Wir“ Sagen.

Eine wesentliche Form des „Wir“-Sagens ist zweifellos das Gebet (viel mehr als ein bestimmter, „richtiger“ Glauben), und damit kommen wir endlich wieder zu unserer Ausgangsfrage zurück. Warum nennt Lessing den „Nathan“ ein dramatisches Gedicht?
Wir erinnern uns an Lessings Ausspruch, daß er auf dieser Kanzel zu predigen versuchen wolle. In jeder denkbaren Kirche wird gepredigt um danach um so intensiver ins gemeinsame Gebet zu fallen, das Erbauung bedeutet.
In seiner Rede anläßlich der Verleihung des Georg Büchner Preises formulierte Paul Celan im übertragenen Sinne, daß gerade das Gedicht eine höchst spezielle Form eines fast idealen Dialoges ist, das einem Gebet gleichkomme. Dieser Aspekt erscheint mir bemerkenswert: Spätestens seit Martin Buber ist bekannt, daß das Gebet in seiner höchsten Form als dialogisches, also kommunikatives Geschehen aufzufassen ist. Der Mensch redet Gott im Gebet an und hofft auf Antwort, erwartet sie aber auch nicht konkret. Antworten findet er im interpretierenden Dialog mit Gott, möglicherweise aber auch in dem ´Wir´ einer rituell bevorzugten Gebetsgemeinschaft. Ein niemals befriedigbares Begehren erwächst aus dem Dialog zu dem unbekannten Anderen. Das Gebet (das ja dem Gedicht gleichgesetzt ist) bleibt dadurch stetig werdend, transzendent und in seinem Werden angewiesen auf immer wieder neuen Sinnzuwachs durch immer wieder neue Leser, neue Stimmen, Interpreten usw. Es dokumentiert als solches bereits ein ständiges Unwissen. Ein Gedicht ist also wie das Gebet nichts Abgeschlossenes, nichts Erklärendes, immer erst zu Interpretierendes. Damit ist das Gedicht eine Kunstform, die zwischen Wirklichkeit und Möglichkeit jongliert und sich an den oder das Andere(n) richtet. Es ist unterwegs. Ich zitiere weiter Celan „Ein Gedicht hält auf etwas zu. Auf etwas Offenstehendes, Besetzbares, auf ein ansprechbares Du vielleicht, auf eine ansprechbare Wirklichkeit. Für Celan gehört es von jeher zu den Hoffnungen des Gedichts „in einer anderen Sache“ zu sprechen – wer weiß, in eines „ganz anderen Sache“. Für die Juden ist klar: Gott ist der ganz und gar andere. Wieder eine Parallele zwischen Gedicht und Gebet: in der Sache eines ganz und gar anderen zu sprechen, ohne jemals eine Antwort zu erwarten. Gedicht und Gebet enthält Göttliches. Doch wie kann sich der Mensch anmaßen, in Vertretung Gottes zu handeln oder zu sprechen? Die Begründung hierfür lieferte schon Mendelssohn. In einem Brief an Herder formulierte er, alles am Menschen, in dem ja die Vollkommenheit bereits mit angelegt ist, verrate Unendlichkeit. Jede seiner sinnlichen Empfindungen enthalte Stoff zu einer unendlichen Entwicklung, jede seiner Begierden gehe ins Unermeßliche. Mendelssohn entwirft hier ein „metaphysisches Begehren“, das er in Übereinstimmung mit Leibnitz als eigentliche Antriebskraft des Menschseins definiert. Letztendlich ist alles „schöne Tun“ das Begehren nach Vollkommenheit.
Und dieses Begehren ist der Ausgangspunkt für das mögliche Zusammendenken der Begriffe Gebet und Gedicht.
Gedicht ist natürlich vor allem insofern die schönere Metapher, da gerade Gebet und die bekannten kirchlichen Gebetspraktiken zumeist längst ihren ursprünglichen Sinn vergessen zu haben scheinen und vermeintlich auf das Gegenteil von dem Gemeinten verweisen könnten. Wenn man an Kirchengebete denkt, dann sind das zumeist gleichförmig, im tödlichen Gleichklang vor sich hingemurmelte tote Formeln, die keinerlei Richtung mehr zu besitzen scheinen. Die oben angesprochene Wir-Erfahrung meinte etwas ganz anderes. Eine Wir-Erfahrung in dem Wissen meiner und die aller uneinholbaren Andersheit. Es dürfte nie zu einem Gleichklang kommen. Gleichklang ist uniformiertes Sein, deutet auf eine Unterwerfung unter Dogmen oder –Ismen hin. Das optimale aufgeklärte und tolerante Verhältnis zum Anderen müßte jederzeit ein jeweils eigenes, ein souveränes Uneins-Sein bleiben.
In dem dramatischen Gedicht „Nathan der Weise“ formuliert Lessing neben seiner Familienparabel auch das fundamentales ethisches Prinzip des Nächsten, der in seiner unantastbaren Andersheit immer auch gleichzeitig der Fernste und damit der Fremde bleibt, und verbindet damit einen christlichen Urtopos mit einem Hauptbegriff des Jüdischen.
Heute kennen wir „das dialogische Prinzip“ eines Martin Buber und wir kennen z.B. auch die Schriften eines Emanuel Levinas, sein Ich und Du, das Verhältnis zum Anderen- zum Du, zur Frau, zum Sohn, im Gespräch, in der Liebe, im Tod-; Dort ist das Verhältnis zum Anderen immer ein spezifisches, auf keinerlei Reziprozität zurückzuführendes Geschieden-Sein, jedoch als solches nicht ein desinteressiertes Nebeneinander-Sein, sondern –von Angesicht zu Angesicht ein souveränes Uneins-Sein, das mehr ist als ein Eins-Sein, denn gerade dieses Zu-Zweit-Sein mit dem Anderen ist das Menschliche. Nicht im Erkennen, nicht im Benennen des Anderen, auch nicht in der Verschmelzung mit ihm, schon gar nicht in der Gewaltsamkeit des Wollens oder Habens wird das Ich dem Du gerecht. Gerade weil das Du absolut anders ist als das Ich, gibt es, von einem zum anderen, Dialog und aus dem Dialog von einem zum andern entsteht etwas drittes: Transzendenz. Das ist vielleicht die eigentliche Aussage der Ringparabel. Der andere ist ebensowenig zu besitzen, wie die Wahrheit. Jedes Individuum ist und bleibt mit seinen Erfahrungen, mit seinem Glauben uneinholbar anders, eine Andersheit, die ihre höchste Entsprechung in der gemeinsamen Erfahrbarkeit von der Unendlichkeit und Unnennbarkeit Gottes findet.
Und damit sind wir wieder beim Schlußbild des Nathans, wo der übrigbleibende Titelheld provozierend alleine steht. Lessing stellt damit die Frage nach dem Nächsten, der, in seiner unantastbaren Andersheit, zugleich der Fernste und der Fremde bleibt. Mahnung, Utopie, Zukunft und Denkmal zugleich.