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Spielplan


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Penthesilea

von Heinrich von Kleist

Musik: Wolfgang Siuda; Dramaturgie: Brigitte Fürle; Darsteller: Babett Arens, Stéphane Bittoun, Susanne Buchenberger, Ann-Sophie Buhr, Andreas Duetsch, Nicole Fiedler, Werner Fritz, Florian Gottschalk, Nicola Gründel, Stefan Gültzow, Lilian Kornmann, Katharina Linder, Klaus Meßlinger, Peter Moltzen, Patrick Reichelt, Jessica Richards, Abak Safaei-Rad, Michael Scherff, Tobias Stehling, Susanne Steinert, Sami Yildiz


Und: Sophie Stoeckel (Cello), Günter Bozem/Christoph Maurer (Percussion)

"Sie lieb ihn, o so sehr, daß sie vor Liebe gleich ihn essen könnte"

Penthesilea, Königin der Amazonen, begegnet im Kampf vor Troja dem griechischen Kriegshelden Achilles. Sie wählt ihn bedingungslos zum Geliebten, den es zu besiegen gilt. Achilles verkennt Penthesileas Amazonennatur und unterwirft sich nur zum Schein den strengen Liebesgesetzen der Kriegerinnen. Das treibt Penthesilea zur mörderischen Raserei, in der sie den anderen nicht erkennt und damit selbst ihr Ende beschließt.
Kleist hat den griechischen Mythos der Begegnung von Penthesilea und Achilles nach den historischen Quellen der Ilias von Homer, des Diodor von Sizilien (Bibliothek der Geschichte) und anderen umgedichtet und die wohl radikalste deutsche Liebestragödie geschrieben. Nicht Achilles erschlägt die Amazonenkönigin, sondern Penthesilea - letzte Anführerin einer kriegerisch-matriarchalen Gesellschaft - zerfleischt den Jüngling, den sie liebt. Kleists "Penthesilea" erzählt von einer maßlosen Leidenschaft zweier Liebenden aus einander fremden Welten, die zu Mord und Tod führt, im vollen Bewußtsein der irrationalen Gewalt ihrer Gefühle. Die Übertretung der jeweiligen Staatsordnungen und gesellschaftlichen Regeln bedeutet für beide Helden die momentweise Erlangung einer absoluten Ich-Identität um den Preis des gegenseitigen Verlöschens.
Wenige Jahre nach Vollendung seiner Penthesilea erschießt Heinrich von Kleist seine "Todesgefährtin" Henriette von Vogel und anschließend sich selbst am Berliner Wannsee.



SEND ME ROSES
von Brigitte Fürle

Tank Girl, Lara Croft oder die Fernsehamazone Xena, Frauen mit sexueller Attraktivität und geballter Kampfkraft, verkaufen sich als die Amazonen von heute. Vom jahrtausendealten Mythos kriegerischer Frauen und ihren Muttergottheiten bleiben archäologische Ausgrabungen - Amazonengräber – in denen die Kriegerinnen mit Reitpferden samt Zaumzeug bestattet sind, und typisch weibliche Grabbeigaben wie Ohrringe, Schmuck und Spiegel und „männliche“ Waffen wie doppelbögige Axt, das mondsichelförmige Schild, Pfeile und Bogen davon erzählen, dass sich weibliche Schönheit und Kriegskunst nicht ausschlossen.

Trotzdem ist Penthesilea keine antike Vorlage für Lara Croft, die als virtuelle Männerphanatasie die Herrschaftsmechanismen modernen Kampftechnologien bedient. Die Amazonenkönigin Penthesilea und ihr Frauenstaat sind ein Mythos, der heute wie zu Zeiten Kleists über das Andere, das Fremde, das Unbekannte - der Kehrseite des Bewußtseins von Identität - erzählt. Ein Drama des modernen ICH, das gegen Kodifizierung revoltiert, sich radikal erweitert, und sich selbst auslöscht. Ein Subjekt, das sich in Frage stellt, seiner selbst nicht gewiss ist; Penthesileas "Hetzt alle Hund‘ auf ihn!" und "Nur an diese Brust will ich ihn niederziehn!“ sind gleichwertige Momente von souveräner und an sich zweifelnder Identität.

Penthesilea ist ein Sonderfall, mehr ein Akt lyrischer Selbstauflösung als eine Tragödie. Günter Blöcker

Liebe ist ein "giftgefiederter Pfeil Amors" im Frauenstaat, das letzte, was dieser für seinen Fortbestand vorsieht und umso verheerender im Stück, dass er ausgerechnet die Königin trifft. Der katastrophale Ausgang eines von Unerfahrenheit (seitens Achill gegenüber der Amazonennatur) und maßlosem Gefühl (seitens Penthesilea entgegen einem streng disziplinierten Gruppenkodex) gleichermaßen unmöglich gemachten Liebesmoments ist ein Akt kannibalisch erotischer Gewalt, der als Bild die ungeheuerliche Freiheit des Subjekts beschreibt, sich von einer streng kodifizierten Gruppengesellschaft loszusagen und ICH zu sein, für einen kurzen Moment, und - von Kleist mit minutiöser Genauigkeit beschrieben - das Kraft des eigenen Gedanken bestimmt, nicht mehr zu sein.

Nun trägt die Begierde und Jagd nach der Ganzheit den Namen Eros. Platon

Gesellschaftlich befinden wir uns am Beginn des 21. JH nach Ray Kurzweil vor das Problem gestellt, bald biologische, nichtbiologische und menschliche Hybriden unterscheidend definieren zu müssen. Geschlechteridentität ist Sache des Einzelnen, eine Vielfalt aus Lebens- und Denkzusammenhängen, männlich, weiblich und third gender in unzähligen Spielarten dessen, wer wir sind und was wir sind. Kleists Achill und Penthesilea sind die ersten Vorzeichen einer sich neu formierenden Geschlechteridentität am Beginn des 19 JH, ein archaisch gedachtes Paradies des Androgynen - Mann und Frau gleichzeitig – das Helle und das Dunkle, das Paradies und der Abgrund Mensch: "es ist wahr, mein innerstes Wesen liegt darin, und Sie haben es wie eine Seherin aufgefaßt: der ganze Schmutz zugleich und der Glanz meiner Seele". H v K

Man muss verrückt sein, man muss den Boden "Mann" unter den Füssen verlieren können, um zu schweben und mit dem Leben Liebe zu machen. Was für eine schöne Frau und was für ein schöner, junger Mann zugleich ist das Leben! Francis Picabia

„Selten haben Frauen so selbstbewußt für sich gesprochen, wie es Kleist hier für sie tut“: Penthesilea erzählt auch von der Sehnsucht (Kleists) nach einer paradiesischen Ordnung, in der die Trennung von männlich # weiblich noch nicht existiert, von einer weiblichen Identität, die das Prinzip männlich nicht ausschließt (und umgekehrt). "Bin ich in Elysium", fragt Penthesilea nach ihrem makabren Mord an Achill, dem mißglückten Versuch, sich das Männliche wieder einzuverleiben, eins zu werden, vollkommen zu sein. Penthesileas Elysium war nur ein Zustand der EX TASIS, des Außersichseins, außer sich und der Welt. Die Gottesanbeterin verschlingt das Männchen nach der Befruchtung, Penthesileas Liebesobjekt ist schon tot, bevor es überhaupt soweit gekommen wäre. Aus Versehen zu Tode gebissen, wo Küsse gemeint waren. Gleich ihren Hunden hat sie sich in seiner Brust verbissen, ein barbarisches Schauspiel, das Meroe, Repräsentantin der Ordnung, mit Schaudern beschreibt: das dionysische Chaos aus Mensch und Tier, das Ordnung und Hierarchie zerstört hat. Und ultimatives sadomasochistisches Ritual der beiden Helden, in dem der sterbende Achill noch ruft: "Meine Braut! Was tust du? Ist dies das Rosenfest, das du versprachst?"
Penthesilea bleibt der aktive Todespart vorbehalten, der "herrlichste und wollüstigste aller Tode" (H.v.K.) - oder die Stille.

Doch das Paradies ist verriegelt und wir müssen die Reise um die Welt machen, und sehen, ob es vielleicht von hinten irgendwo wieder offen ist.
Heinrich von Kleist Über das Marionettentheater

Literaturangaben
Androgyn – Sehnsucht nach Vollkommenheit, Ausstellungskatalog Neuer Berliner Kunstverein
Günter Blöcker: Heinrich von Kleist oder das absolute Ich
Heinrich von Kleist, Sämtliche Werke
Ray Kurzweil: Homo S@piens. Leben im 21. Jahrhundert
Camille Paglia: Die Masken der Sexualität
Platon: Das Gastmahl
Lyn Webster Wilde: Amazonen, Auf den Spuren Kriegerischer und Göttlicher Frauen
Vgl.: Natalya Polosmak, A Mummy Unearthed From The Pastures of Heaven National Geographic, Oct. 1994


Brigitte Fürle ist Dramaturgin der Penthesilea am schauspielfrankfurt