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Die Räuber

Für eine Störung der Nachtruhe


/ "Die Räuber" am schauspielfrankfurt -

Elisabeth Schweeger und Jens Groß im Gespräch mit Martin Lüdke

Elisabeth Schweeger: Herr Lüdke, ich würde gern darüber sprechen, unabhängig davon, wie man an einen Spielplan gestaltet, ob und wie Theater Irritationen schaffen, die herkömmlichen und tradierten Erwartungshaltungen und Wahrnehmungen in Frage stellen und überprüfen kann. Mich hat in diesem Zusammenhang sowohl der Zugriff von Peter Kastenmüller auf Die Räuber sehr interessiert als auch die Frage, was die Vorlage Räuber an sich ist. Wie sehen Sie das?

Martin Lüdke: Ich muß erst einmal mit einer Gegenfrage antworten. Ich finde es mindestens genau so spannend zu fragen, was ein Schauspiel dazu bewegt, heute Die Räuber aufzuführen, ein Stück, das Schiller mit zwanzig Jahren geschrieben hat, das in seiner Zeit eine enorme Wirkung entfaltet hat und danach eine Wirkungsgeschichte, die jetzt wie ein Grabstein auf dem Stück liegt. Das Stück hat, bei Lichte besehen, auch seine Schwächen. Also: Was bewegt Sie, ausgerechnet Die Räuber zu nehmen?

Schweeger: Es gibt zwei Richtungen. Erstens ist es meiner Ansicht nach die Aufgabe einer städtischen Kulturinstitution wie dem schauspielfrankfurt, sich mit dieser Wirkungsgeschichte auseinanderzusetzen. Zweitens finde ich es legitim, daß man versucht, sich mit dem Kulturgut auseinanderzusetzen. Was für Zugriffsmöglichkeiten hat man überhaupt noch auf dieses Paket, auf diesen Rucksack Tradition?

Lüdke: Auf den Begriff Kulturgut reagiere ich etwas allergisch. Das habe ich früher einmal gelernt, Kulturgut – das ist der Müll, der bei Beckett in den Tonnen steckt, in denen Hamms Eltern, im Endspiel, gelandet sind. Anders gesagt: Mir scheint es notwendig, radikal an die Räuber heranzugehen. Kastenmüller tat gut daran, alle Scheu vor dem Staub der Geschichte abzulegen. Ein Stück unter der Bildungstradition und Wirkungsgeschichte freizulegen, dabei auch Verkürzungen vorzunehmen und vielleicht sogar in Kauf zu nehmen, daß eine Bande zur Band wird, daß also Protest, Aufbegehren, Widerstand neue Formen finden und – vielleicht ist das der Preis – daß von dem Stück nur noch wenig übrig bleibt, auch wenn es den noch gehfähigen Resten unseres Bildungsbürgertums eigentümlich ans Herz gewachsen zu sein scheint. Außerdem: Kastenmüller hat in seiner Inszenierung etwas getroffen, was unterhalb der Wirkungsgeschichte liegt. Schiller war ein genialischer Jüngling. Die Räuber waren sein erstes Stück. Ein großer Wurf. Die Nachricht vom Erfolg der Uraufführung in Mannheim ging wie ein Lauffeuer durch ganz Deutschland. Da darf man aber die Zeitumstände nicht ignorieren. Schiller riskierte damals einiges. Aber schon ein Wort wie ›Gedankenfreiheit‹ (später in Don Carlos) wirkte als veritabler Sprengsatz in den feudal-absolutistischen deutschen Kleinstaaten. Karl Moors gewaltsamer Widerstand gegen die Verhältnisse – das war – damals – tatsächlich ›ein starkes Stück‹. Aus der Zeit heraus verständlich. Der arme Schiller ist ja tatsächlich in Teufels Küche gekommen. Nur: War es wirklich revolutionär? Wenn ich mir heute die Bauart des Stücks anschaue, schon die Form der Intrige, fange ich an zu schwitzen und frage mich: Muß man sich das heute wirklich noch antun? Anders gesagt: Wie kann man damit umgehen? Das Stück ist in sich etwas wacklig begründet. Schiller schwankt in der Motivation, mal psychologisch, gar anthropologisch, dann wieder soziologisch oder politisch. Etwas bissig gesagt: Das Stück zerfällt. Mit dieser, sagen wir, Ahnung im Kopf kam ich ins Theater. Und dort sah ich plötzlich: ein zerfallenes Stück. Dazwischen Inseln des Sinns. Und lange Strecken des, sagen wir ruhig, des Unsinns. Das heißt: Ich sah in der Inszenierung einen guten, einen radikalen, einen riskanten Ansatz. In den Brüchen der Inszenierung erkannte ich das Durcheinander in meinem Kopf wieder. (Der Satz eignet sich, ich weiß es, zur polemischen Verwendung gegen mich!). In den Brüchen der Inszenierung zeigt sich, für mich, etwas von der Brüchigkeit unserer hehren Tradition. Einmal stehen die Schauspieler an der Rampe und zelebrieren, durchgearbeitet, gestaltet, Schillertexte als Schillertexte. Dazwischen versteht man kein Wort. Es geht drunter und drüber, ein heilloses Durcheinander. Wenn ich diesen Sachverhalt – warum nicht? – positiv deuten sollte: In diesem Rahmen, zwischen den Inseln des Sinns und dem Chaos, zeigt sich das Ergebnis unserer Geschichte samt der Schiller’schen Wirkungsgeschichte. Die Inszenierung hat also nur die nötigen Konsequenzen gezogen. Aber, um die Kirche im Dorf zu lassen, sie ist selber nicht konsequent geblieben. Vieles bleibt – zu – beliebig.

Schweeger: Ich fand den radikalen Zugriff insofern schlüssig, als daß gewisse Wertigkeiten nicht mehr stimmen. Jede Welt und jede Konfiguration weist die gleiche Problematik auf. Es gibt weder gut noch böse. Die Räuber sind in sich genau so unfähig, wie es die ›Franzwelt‹ und die Vatergesellschaft ist. Man hat lauter kleine Welten, die in sich vielleicht ihre Legitimität haben, die aber weder zueinander kommen, noch auseinander zu dividieren sind. Eigentlich sind sie alle handlungsunfähig geworden.

Lüdke: Ich würde das gar nicht als Welten bezeichnen, sondern als unterschiedliche Handlungsspielräume, die nach einer bestimmten Logik funktionieren. Wo sie beispielhaft oder gar nicht funktionieren, werden sie in der Inszenierung ausgestellt. Der Rest hängt dann wieder durch. Das war für mich der entscheidende Gesichtspunkt. Denn es ist im Grunde genommen klar, daß es keine klaren Trennungen zwischen hell und dunkel oder zwischen gut und böse gibt, auch für Schiller nicht, weil er selbst im Tyrannen Ambivalenzen erkannt und auch teilweise gestaltet hat. Was er noch versuchte, war, aus den Oppositionen heraus eine Handlung zu generieren, was nur teilweise funktionierte. Und diesen Motor hat die Inszenierung abgedrosselt.

Schweeger: Aber das ist doch eigentlich nur logisch, wenn man auf heute sieht.

Lüdke: Eben! Es ist ganz merkwürdig. Die Inszenierung hat nicht nur für Aufregung, sondern auch für Anregung gesorgt. Hat Diskussionen ausgelöst. Es ist ja vielleicht nicht mehr die vorrangige Aufgabe des Theaters, dem Bildungsbürgertum noch einmal zu zeigen, was es – glücklicherweise, zugegeben – ohnehin schon kennt und weiß. Es ist doch auch ganz hübsch, wenn einmal Leute ins Theater kommen, die ihre Schuhe noch selber zubinden können und mit ebenso bleibenden wie verstörenden Eindrücken wieder rausgehen.

Schweeger: Mich hat an der Inszenierung auch interessiert, daß wir im Augenblick in einer Situation sind, die permanent von uns verlangt, Haltungen zu beziehen, daß es aber keine Möglichkeit gibt, eine Position einzunehmen, konkret zu sagen, so und nicht anders hast du dich zu verhalten. Das war ja eigentlich Schillers Vorgabe. Der Räuber, der sich sozusagen verläuft, wird ja reumütig wieder in das sogenannte System der Ordnung und der Gesetzmäßigkeit integriert. Das geht heute nicht mehr, weder Staatsdirigismus noch Terrorismus funktionieren noch.

Lüdke: Das funktionierte schon damals beides nicht. Was bei Schiller aber nicht richtig durchund rauskommt, noch nicht deutlich werden konnte.

Jens Groß: Doch! In Franz’ Versagen ist es mitformuliert. Die Tyrannei ist auch nicht die Lösung.

Lüdke: Tyrannei ist nicht die Lösung. Aber die Kritik an der Tyrannei und die Überwindung der
feudalistischen Struktur deuteten sich gerade erst an. Ganz sicher, fest gefügt, war damals die sittliche Grundordnung der Welt. Und sie war auch begründbar. Sie wurde begründet. Heute stehen wir barfuß auf der Straße. Alle diese Sicherheiten haben wir restlos verloren. Geblieben sind uns, ich habe es mehrmals schon gesagt, allenfalls noch kleine Sinninseln. Das zeigt uns die Inszenierung. Also unser gegenwärtiges Problem. Der Protest, das Aufbegehren 1968, hat die letzten Illusionen dieser Art zerstört, ist selbst zum Teil des Systems geworden. Die Bande spielt als Band. ›Macht kaputt, was euch kaputt macht!‹ – keine Handlungsaufforderung, sondern eine Schallplatte!

Schweeger: Natürlich! Aber da sind wir ja ein Stückchen weiter. Wir haben den Absolutismus verabschiedet und einen sogenannten demokratischen Parlamentarismus entwickelt, aber auch diese Form funktioniert nicht mehr. Und es wird dann interessant, wenn man fragt, was eigentlich noch übrig bleibt.

Lüdke: Neuere Diskussionen in der Psychoanalyse und Psychiatrie über Begriffe wie den der Depression etwa gehen davon aus, daß die Zunahme von Depressionen darauf zurückzuführen ist, daß die Freud’sche Instanz des Über-Ich – die Franz noch ganz stark in sich hatte (»Du hast gesündigt!«; »Du hast Fehler gemacht!«; »Du bist auf den falschen Weg gekommen!« – »Jetzt mußt du wieder den geraden Weg zurückgehen!«) – soweit erodiert ist, daß wir keine Orientierungspunkte mehr finden. Jetzt müssen wir uns in der diffusen Welt irgendwo
zurechtfinden.

Schweeger: Das meine ich damit, keine Haltung mehr einnehmen zu können. Ich bin im übrigen der Meinung, daß Werte heute nicht mehr existieren. Und daß es die Aufgabe ist, diesen Zustand des Floatens jetzt im Theater zu formulieren.

Lüdke: Ich glaube, das ist noch ein Stück weit verrückter. Natürlich sind Werte noch da, sie können auch noch formuliert werden, aber sie können nicht mehr schlüssig begründet werden. Sie haben ihren Geltungsanspruch verloren. In der Inszenierung sah ich hinsichtlich der Wertediskussion einen Ansatz, einen Ansatz nur, wohlgemerkt, nämlich in dem Spielcharakter, den der Abend über weite Strecken hatte. Sachen spielend ausstellen:
Das können wir natürlich machen. Ich kann mich als Dandy oder als Sportsmann geben, kann einmal moralistisch-rigoros argumentieren, kann auch politisch werden, kann das aber auch beliebig wechseln, ohne selber irgendwo ein schlechtes Gewissen dabei zu haben. Oder auch entwickeln zu können.

Groß: Aber alles, was jetzt über Sinninseln und Orientierungslosigkeit beschrieben wird, führt auf die Ausgangsfrage zurück. Warum tut man sich das an mit einem Klassiker? Genau diese Zerreißprobe, die Sie beschrieben haben, die kann man nur einfangen, indem man die Vergangenheit mitreflektiert. Das heißt, diese Sinninseln wären nicht als Sinninseln erkennbar, wenn man nicht mit dem verlorenen Sinn konfrontiert wäre.

Lüdke: Ich würde dem zustimmen, es aber ein bißchen anders formulieren. Wir stehen nach wie vor in einem Traditionszusammenhang und die verlorenen Begründungen, von denen wir noch Fragmente haben, mit denen wir auch noch umgehen, die leiten sich aus diesem
Traditionszusammenhang her. Es gibt sozusagen Anschlußstellen, die man jederzeit finden kann. Eine Terrorismusdiskussion wäre ein Stück weit mit Schiller zu führen, aber eben nur ein Stück weit, weil bei Schiller noch eine entscheidende Ebene fehlt. Vorhanden ist dagegen bereits das Moment des anarchischen Aufbegehrens. Nur wußte auch Schiller schon, daß es letztendlich zu nichts führt. Man kann ein System nicht durch individuelles Handeln ändern. Schiller hatte es begriffen. Die RAF nicht.

Groß: Das Interessante an diesen Klassikeradaptionen, in dieser Form, ist für mich, daß die Zerbrochenheit des Systems zu sehen ist, in dem wir leben. So etwas kann im Grunde nur eine Klassikerinszenierung, denn man muß diese Eckpunkte noch irgendwo spüren. Es ist sehr schwierig, jeder Autor würde einen neuen Stoff wieder in ein neues System einfassen.

Lüdke: Da bin ich mir nicht so sicher. Mir fällt noch einmal die Beckettinterpretation von Adorno ein. Die Interpretation des Endspiels, meinte Adorno, könne nicht der Illusion anhängen, den Sinn des Stücks philosophisch vermittelt auszusprechen. Das Endspiel verstehen heiße nichts anderes, als seine Unverständlichkeit zu verstehen. Er sagte wörtlich: den »Sinnzusammenhang dessen nachkonstruieren, daß es keinen hat.« Ich sehe keinen prinzipiellen Unterschied zwischen den Stücken Becketts und dem Repertoire der Tradition. Was, fürchte ich, die Inszenierung von Klassikern leisten müßte, ist die Störung der Nachtruhe. Wir sollten zwar nach wie vor unseren lieben Nachbarn, mit Claudius, eine gute Nacht wünschen, aber auch für etwas Unruhe sorgen.

Schweeger: Ich glaube, daß man stärker polarisieren kann, wenn man die gewohnten Wahrnehmungen stört.

Lüdke: Ein starkes Argument der Gegner dieser Inszenierung habe ich gehört: Da kommen junge Leute ins Theater und gehen dann in der Annahme nach Hause, das sei Schiller gewesen, was sie da gesehen hätten. Ich glaube, an dieser Befürchtung ist etwas dran. Das Musical, das sie gesehen haben, ist in diesem Sinne nicht ›der Schiller‹. Nur, diese Gegenfrage sollte man sich ebenfalls stellen: Wo, bitte, ist dieser ›Schiller‹ denn zu finden? Nicht einmal, wie wir wissen, im Weimarer Fürstengrab. Er ist eine (historische) Konstruktion. Morgen schon wieder eine andere als heute!

Schweeger: Aber für mich bleibt trotzdem die Legitimation, ein solches Stück zu machen, daß ich mich daran reiben kann. Bei einem zeitgenössischen Stück würde vielleicht die Reibung fehlen, da würde man einfach einen Tatsachenbericht machen.

Lüdke: Ich glaube, daß erstens das ›aber‹ nicht stimmt, denn wir sind uns, glaube ich, in der Hinsicht völlig einig. Die Reibung kann kein Selbstzweck sein. Theater wird ja nicht gemacht, um einen bestimmten Teil des Publikums zu ärgern, sondern auch deshalb, um dort Formen der Erkenntnis zu entwickeln. Und eine der Erkenntnisse, die man aus solchen Inszenierungen gewinnen kann, ist der Geltungsverlust eines bestimmten Kultur- und Traditionszusammenhangs, den man an diesen Stücken ablesen kann, der aber nach wie vor von Teilen des Publikums fraglos unterstellt wird und die jetzt gezwungen werden, ihre eigenen Voraussetzungen zu überprüfen. Das finde ich das Entscheidende. Da kommen Leute ins Theater, die wach genug sind, die Voraussetzungen, mit denen sie ins Theater gekommen sind, in Frage stellen zu lassen, sie werden plötzlich in Bewegung gebracht, da geht ein richtiger Erkenntnisprozeß los. Die fragen, die schauen noch mal nach, die gucken noch mal ins Stück rein, die kümmern sich jetzt auch um so eine Safranski-Biographie. Durch das kommende Schillerjahr wird ja einiges jetzt in Bewegung gesetzt. Und die Biographie von Safranski ist wahrscheinlich die Biographie, von der am meisten zu lernen ist, weil auch Safranskis Zugriff historisch reflektiert ist.

Schweeger: Das meinte ich. Ein neuer Prozeß
entsteht und wird angeregt.

Lüdke: Da hatte ich wohl noch den alten, aus der Avantgarde heraus kommenden Begriff …

Schweeger: Ich verstehe das wie im elektrotechnischen Bereich. Widerstand ist notwendig, damit Licht entsteht, damit der Funke springt. Da ist es leichter für uns Theatermacher, wenn man mit den tradierten Erwartungshaltungen umgeht.

Lüdke: Mir kommt es darauf an, daß man mit einer solchen Strategie zwei Fliegen mit einer Klappe schlägt. Man knüpft an das an, was das Theater 200 Jahre lang ausgemacht hat und stellt sich noch in diese Tradition, läßt sie aber nicht mehr ungeprüft gelten. Und zwingt die Leute dazu, die eigenen Traditionen, mit denen sie groß geworden sind, neu zu überprüfen. Diese Doppelfunktion ist das Entscheidende.