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Bakchen

Brigitte Fürle im Gespräch mit Christof Nel


DEN GÖTTERHIMMEL ZUSAMMENROLLEN WIE EINE KULISSE

Spannendes comeback eines Regisseurs am schauspielfrankfurt. Zuletzt inszenierte Christof Nel hier in der Ära Palitzsch seine legendäre Antigone. Nun wagt er sich an eine der radikalsten griechischen Tragödien, die Bakchen des Euripides in der Neudichtung von Raoul Schrott.

Brigitte Fürle: Sie haben als Schauspieler begonnen und sind dann sehr bald zur Regie gekommen. War das eigentlich ein geplanter Übergang?

Christof Nel: Ich wollte von Anfang an gerne Regisseur werden und hab dann aber gedacht, ich studiere Theaterwissenschaft, bin dann zur Schauspielschule gegangen und hatte aber immer eigentlich im Kopf, daß ich Regisseur werden will. Am Anfang habe ich relativ große Rollen gespielt, aber ich war einfach kein guter Schauspieler, ich war so ein typischer Regisseur-Schauspieler, der immer alles weiß, wie er das machen soll. Und dann hatte ich das Glück, daß ich an die Schaubühne gekommen bin in der Gründungsphase, übrigens über Werner Rehm, der jetzt bei uns in den Bakchen den Kadmos spielt, und da habe ich dann kleine Rollen gespielt und bin von der Schaubühne nach drei Jahren weggegangen und dann begann ich zu inszenieren.

BF: In der Arbeit mit Ihnen fällt auf, daß Sie immer sehr aus der Psychologie der Figuren heraus als Regisseur argumentieren. Hat das einen Hintergrund in diesen ersten Anfängen als Schauspieler?

CN: Wie man sich als Schauspieler fühlt, wenn man inszeniert wird, das habe ich schon mitgekriegt und das habe ich mir auch behalten. Und das Identifizieren mit den Figuren, das ist was, woran ich eigentlich immer weiter arbeite, ich versuche wirklich Situationen ganz stark aus dem jeweiligen Blickwinkel von Figuren zu sehen und gleichzeitig versuche ich mir auch vorzustellen, wo der Zuschauer sich dann mit seiner Identifikation einklinkt. Und das ist es, was mich, je länger ich es mache, auch um so mehr interessiert, der Vorgang der Identifikation.

BF: Das heißt, über die Psychologie der Figuren kommt man zu den Spuren, die die Interpretation oder das Konzept formulieren? Entsteht das über den Text oder mehr aus (möglichen) Geschichten der jeweiligen Figuren?

CN: Also ich würde schon sagen, daß das erstmal von den Texten ausgeht. Man steht vor so einem Text - und ich versuche Texte auch erstmal sehr lange anzustaunen und zu entdecken und zu verstehen und in ganz vielen Dialogen, die ich darüber führe, zu verstehen, worum es denn da wirklich geht. Und dann kommt man aber doch relativ bald zu Punkten, wo ich versuche mir vorzustellen, wenn das jetzt ein richtiger lebender Mensch wäre, der die Situation erlebt, also vielleicht nicht mal so sehr eine Theaterfigur - wie kann der so eine Situation, eine traumatisierende Situation - darum geht es ja ganz oft in Theaterstücken oder in Opern - überleben. Und das hat dann ganz oft mit der Frage zu tun, wie redet der? Wie redet man über einen Schrecken hinweg, oder wie hält man sich durch Sprechen am Leben, und was für eine Form von Sprache ist das? Mir geht es da nicht in erster Linie um die Figur, sondern darum, das, was ich in einem Stück entdecke, zu transferieren auf reale Menschen.

BF: An der Oper Frankfurt haben Sie zuletzt Frau ohne Schatten, Tristan und Isolde und Salome inszeniert. Hier am schauspielfrankfurt erleben wir gerade Ihr spannendes Comeback als Theaterregisseur, wo Sie ja zuletzt unter Palitzsch gearbeitet haben, eine legendäre Antigone-Inszenierung, die dann auch zum Theatertreffen eingeladen wurde. Wir konnten Sie gewinnen, hier die Bakchen zu inszenieren, wieder ein Stoff eines antiken Theaterautors, diesmal Euripides. Bei Sophokles’ Antigone ist eine Protagonistin Opfer einer patriarchalen Männerstruktur. Auf den ersten Blick gibt es in den Bakchen eine männliche Hauptfigur, die von der eigenen Mutter und einer weiblichen Masse vor dem Hintergrund einer patriarchalen Ordnung zerrissen wird. Wie kommt es denn überhaupt zu dieser Entscheidung, die Bakchen zu machen?

CN: Ich habe die Antigone gemacht, die Perser und jetzt die Bakchen, diese drei antiken Stücke. Die Bakchen sind in meinen Augen eines der extremsten Theaterthemen oder Theaterstoffe, und ich habe gedacht, irgendwann in meinem Leben will ich mich mal an diesem Stück ausprobieren. In sehr langen Gesprächen in der Vorbereitung mit der Leitung des Theaters gab auch von Seiten des schauspielfrankfurt auch ein gesellschaftliches Interesse an dem Stück. Das hat mich wieder interessiert, daß da eine Institution so fragt, und dann habe ich mich getraut, mich da heran zu wagen. Zum Vergleich Sophokles/Hölderlin und Euripides/Schrott: ich finde, Euripides, gerade in dem Stück, rechnet unglaublich ab. Er ist wirklich auch ein Endzeitautor. Und das läßt sich vergleichen mit dem Gefühl der Moderne oder der Postmoderne, wenn Euripides, wie ich finde, mit einem ganz klaren und ätzenden Blick einer Hochepoche, die gerade auf ihren Niedergang zusteuert, einen Spiegel vorhält und eben auch formal eigentlich den Stoff schon bis an seine Grenzen ausreizt. Es sind ganz viele Regelverletzungen da drin, die wir heute gar nicht mehr als solche empfinden. Was der mit Figuren veranstaltet und wie weit er die treibt, das geht schon richtig an eine Grenze.

BF: Er hat den Stoff ja auch frei erfunden.

CN: Soweit ich weiß, ist dieser Stoff ein erfundener Stoff. Und er rechnet auch mit den Göttern ab, also er läßt da keinen Stein auf dem anderen.

BF: Sie haben die Geschichte in Ihrer Konzeption ja wie ein janusköpfiges Geschöpf zwischen Dionysos und Pentheus angelegt, die ja Blutsbande haben, also Cousins sind. Diese Figur Dionysos, die hier auch als ein traumatisierter Mensch gezeigt wird - sehen Sie das als eine radikale Fortsetzung der Idee dieser Verneinung des Göttlichen bei Euripides? Oder ist das eine Sichtweise, die sich jetzt sehr stark erst in der Probenarbeit entwickelt hat?

CN: Die Übertragung von Raoul Schrott kommt einem da ja sehr entgegen, weil Schrott den Dionysos auch nicht als ein göttliches Wesen per se liest, sondern die Frage aufstellt, ob das möglicherweise jemand ist, der vorgibt, ein Gott zu sein, ob das vielleicht ein Gaukler ist oder ein Schauspieler, der den Gott spielt, und dem es aber gelingt, Menschen zu manipulieren und in seinen Bann zu ziehen. Daß es diese Möglichkeit überhaupt gibt, zu sagen: ist dieser Gott, also Dionysos ist ja ein Halbgott - ist dieser Halbgott möglicherweise ein Scharlatan oder einer, der das nur spielt, und dem es aber trotzdem gelingt, daß Menschen an ihn glauben und ihm folgen? Das ist eine unglaublich politische Frage. Da rollt der Euripides den Himmel sozusagen zusammen wie eine Kulisse, indem er diese Frage aufwirft. Und ich glaube, das ist jetzt nicht nur von uns Heutigen, also Schrott und wir als Produktionsteam, so da rein getragen haben, sondern, soweit man das überhaupt beurteilen kann, ist das dem Stoff, wie Euripides ihn geschrieben hat, immanent. Ein ganz wichtiger Hinweis ist, daß am Anfang Tiresias, der blinde Seher sagt, ‚diese ganze Geschichte mit diesem Halbgott und wie es dazu kommt, daß Zeus den in seinen Schenkel eingenäht haben soll, das beruhe ja sowieso nur auf einem Hörfehler und weil die Menschen gerne Legenden hören wollen’. Das wird in diesem Stück offen ausgesprochen, und das ist natürlich ein unglaublicher Skandal und eine unglaubliche Frechheit, eine Unverschämtheit.

BF: Er stellt die gesamte Schicksalskonstruktion zwischen Göttern und Menschen, die in der Antike das Weltbild war, in Frage.

CN: Ja. Er sagt schon: diesen Gott gibt es nur, weil die Menschen sich gerne verhören. Heute würde man sagen, das sind Projektionen. Man braucht das, man bildet sich die Götter, weil man ohne das nicht klarkommt. Und ich finde, wir haben auch das Glück, daß wir mit Josef Ostendorf einen Schauspieler haben für die Figur des Dionysos, der das auch wunderbar spielen kann.

BF: Es geht natürlich auch darum, wie hier an jemanden eine Verantwortung abgegeben wird, dieses Thema, das dann der Chor aufgreifen wird. Vielleicht hier auch gleich eine Frage zum Chor: Sie haben sich da für einen singenden Laienchor entschieden. Das ist ja auch sehr brisant, also sehr politisch brisant. Genau diese Masse auch noch mal zu definieren als etwas singendes Harmloses.

CN: Also harmlos würde ich nicht sagen. Ich würde sagen, das ist schon eine gefährliche Masse. Das Gefährliche daran ist - und das ist sozusagen bei einem Chor von Laien noch viel brisanter als bei einem professionellen Chor - die brauchen in einem ganz starken Maß einen Führer, also einen, der sie anleitet, der sie dirigiert. Ohne das kommt so ein Chor gar nicht aus, im Finden der Töne, auch als Energiefluß. Und wenn man das jetzt überträgt auf eine gesellschaftliche Masse, dann ist da ein ähnliches Thema. Indem man Masse wird, parkt man bestimmte Teile seines Ich bei einer Führerfigur. Man regrediert, man gibt einfach Teile der Eigensteuerung ab, ist angewiesen darauf, eine Steuerung durch einen Leithammel oder ein Leittier oder eben eine Führerfigur zu haben.

BF: Das hat auch eine Widerspiegelung dessen, wohin Religiosität auch in unserer gesellschaftlichen Realität führt. Sie wird in immer radikalisierteren Formen immer auch als politisches Instrument genutzt.

CN: Wir haben ja einen Chor, der jetzt hauptsächlich singt und durch das Singen bestimmte Sachen auch nochmal kulturell durcharbeitet, kulturfähig macht, das heißt filtert, sie letzten Endes konsumierbar macht oder schönt, und gleichzeitig treibt der Chor aber ganz unbeirrbar diese Geschichte auf das blutige Ende hin. Daß da ein Mensch geopfert wird, da sagt der Chor nirgends "Halt", da sagt er nirgends "Überlege doch mal", sondern das ist eine ganz klare Linie, eine ganz klare Dynamik, die auf diese Opferung des Menschen hintreibt. Insofern finde ich diesen Bakchen-Chor auf eine ganz merkwürdige Weise Täter. Das ist ein Täter, der eigentlich nie seine Meinung sagt. Dieser Chor ist ein Täter, der sich draußen hält, der kulturelle, religiöse Kultgesänge anstimmt, also alles bei Euripides. Ganz anders als der Chor in Antigone, der politisch mit dem Herrscher ringt um bestimmte Positionen und auch wechselweise Positionen bezieht und wieder verwirft, also eigentlich eine Form von politischem Lernen auf der Bühne praktiziert, ist das hier ein Chor, der besingt, der jubelt, der preist, der ist ein emphatisches Gefolge, und das alles führt letzten Endes dazu, daß niemand eingeschritten ist und niemand „Stop" gesagt hat und niemand dazwischen gegangen ist. Das ist was ganz Merkwürdiges, was ich persönlich auch als unheimlich empfinde, und wo ich auch denke, das ist eine Unheimlichkeit: die nicht zu fassende Täterschaft, die latente Täterschaft, die sich um alles Mögliche kümmert und die nicht sagt "ja wir wollen das, wir wollen Blut fließen sehen" oder "wir wollen, daß die und die Minderheit ausgerottet wird", sondern wo das in einem ganz anderen, in einem fast schweigenden oder kulturell glitzernden Gewand daherkommt.

BF: In Ihrer Sicht kommt ja noch etwas hinzu in dieser Macht-Konstellation Agave, Pentheus, Dionysos. Es gibt auch die Figur, die bisher immer eigentlich wenig Aufmerksamkeit hat, das ist Kadmos, der Großvater, der den Pentheus inthronisiert hat - warum, weiß man auch nicht so genau, es wird da ja eine ganze Vätergeneration übersprungen. Sie sehen Kadmos hier als eine durchaus tragende oder handlungsstarke Figur, wenn nicht sogar die Figur, die am meisten mit Schuld beladen ist. Entsteht das auch aus der deutschen Geschichte? Väter und Schuldfrage?

CN: Das kann gut sein. Ich habe die letzten eineinhalb Jahre des Zweiten Weltkriegs als Baby noch sozusagen miterlebt, und meine Generation und auch die Generation hinterher wachsen auf einem Boden auf, wo die Frage "Bekenne ich mich zu meiner Täterschaft oder nicht?" schon im Raum steht, also in dem Sinne, daß sie eigentlich nie klar und deutlich beantwortet worden ist oder wird. Das liegt bei uns schon sehr nahe, daß man ein Unschuldslamm mit einem besonders geschärften Blick betrachtet und guckt, was da vielleicht noch dahinter steckt. Das ist das eine. Das zweite ist etwas, was ich ganz stark in den Dialogen mit meiner Frau, der Psychoanalytikern Martina Jochem (Anm. d. Red.: Künstlerische Mitarbeit), gelernt habe, in diesen ganzen Opernanalysen und Stoffanalysen, die wir zusammen gemacht haben, wie wichtig das ist, gegenüber einem Dramenstoff, einem Theaterstoff, einem Opernlibretto nach der Frage der Täterschaft zu spekulieren, zu forschen, zu phantasieren, zu träumen, über die Frage: Wer ist denn eigentlich in welcher Situation der Täter? Weil man so leicht dazu neigt, ich jedenfalls dazu neige, lieber Opfergeschichten zu erzählen. Was im Laufe der Auseinandersetzung mit den Bakchen entstanden ist, also im Dialog - ich glaube, dazu gehören auch immer zwei oder drei Leute, daß man nicht nur immer bei sich selber stehen bleibt - das war die Frage: Gibt es hinter diesem Offenkundigen - da sagt man, da ist eine Mutter, die hat ihren Sohn zerrissen und guck mal, wie furchtbar die Mütter sind und zu was Frauen alles fähig sind, zumal noch, wenn sie berauscht sind, wie gefährlich sind Frauen, oder wie gefährlich sind Mütter - gibt es hinter dieser Schicht noch eine andere Schicht? Gibt es nochmal Figuren, die diese Agave dahin treiben, dahin manipulieren oder dahin verführen, sie in eine Lage bringen, wo sie ihre eigene Selbstkontrolle nicht mehr halten kann und wo aus ihr ihre mörderischen Seiten aufbrechen? Da leuchtet man dann mit dem großen Scheinwerfer auf diese Frau mit den blutigen Händen, und uns ist es in der Lektüre der Bakchen immer wichtiger geworden, den Scheinwerfer auch in andere Ecken zu richten. Und plötzlich entdeckt man dann, daß mit der Agave ein Mann vom Kithairon zurückkehrt - den eigentlich Männer nicht betreten dürfen, sonst werden sie getötet - der da ganz in der Nähe war und der sagt "Ich bin da zufällig vorbeigekommen und hab hier die Leichenteile aufgesammelt". Dieser Kadmos ist in der griechischen Mythologie ein Täter, ein ganz besonderer Täter, der hat ja diese Drachenzähne ausgesät, aus denen dann die Herrschergeschlechter Thebens hervorgekrochen sind, die Urväter. Die haben sich zum großen Teil alle gegenseitig erschlagen, und zwar deshalb, weil der Kadmos einen Stein zwischen diese Schlangenmenschen geworfen hat. Jeder hat gedacht, der andere hätte den Stein geworfen, und sie haben sich gegenseitig getötet - und Kadmos ist dabei gesessen und hat zugeguckt. So wird erzählt. Es ist eine Täterschaft, die sich nicht offen bekennt, die was anzettelt, die andere für sich kämpfen läßt, die andere was ausbaden läßt, die andere exponiert. Irgendwie wurde uns da immer unheimlicher beim Probieren.

BF: Auch weil Echion, der Mann der Agave, der als einer der wenigen dieser von Kadmos „Gesäten“ übrig blieb, nicht mehr existiert, zumindest nicht in dieser Geschichte.

CN: Ja, der Vater von Pentheus. Und Pentheus – Dionysos als Januskopf, das stimmt. Unsere bisherige Probenarbeit hat da auch sehr viel Material herausgearbeitet, nämlich daß es eine ganz innige Beziehung der Figuren Dionysos und Pentheus gibt. Jetzt mal nicht der Herrscheridiot, der vom Rauschgott aus dem Haus gejagt wird, sondern eigentlich zwei Figuren, die beide um eine Balance von Regulation und Auflösung ringen. Pentheus steht auf der Seite des Regulierens, des Ordnens, und Robert Kuchenbuch ist jemand, der auf eine ganz wunderbare Weise einen gefährdeten Herrscher spielen kann, nicht einen sicheren Herrscheridioten, der halt Gesetze entwickelt und den rechten Winkel liebt und alles Kurvige ablehnt, sondern der versucht Ordnung zu halten. Auch in sich selber und gegenüber seinen eigenen Affekten. Und Dionysos auf der anderen Seite versucht immer, feste Positionen aufzuweichen oder zu verflüssigen oder in Bewegung zu bringen. Und es gibt so etwas, wo man auch denken kann, die beiden Figuren zusammen wären auch eine Figur. Wenn die zusammenkommen könnten, dann wäre das was ganz Wunderbares, aber die können nicht zusammenkommen. Das ist auch was ganz Tragisches in diesem Stück.

BF: Sie haben gesagt, es ist sehr einfach über Agave auf den ersten Bick zu sagen, das ist eine Mutter, die zerreißt ihren Sohn, man richtet den Scheinwerfer auf die blutigen Hände. Aber hier gibt es auch noch andere Ecken, die mit diesem Scheinwerfer beleuchtet werden können. Vielleicht ist Pentheus nicht nur ein Opfer, sondern seine Geschichte auch die Fortsetzung eines Mißbrauchs?

CN: Da hat uns auch wieder die Familiengeschichte interessiert. Die Geschichten dieser Herrscherclans in der griechischen Mythologie sind ja haarsträubend, da gibt es ja keine Grenze, da gibt es nichts, was die Figuren voreinander schützt, was die jüngere Generation vor der älteren schützt. Es gibt ganz viele Spuren im Stück, wo immer wieder darüber gesprochen wird, daß Söhne zerrissen werden, das gehört da dazu. Das heißt, niemand ist sich der Außengrenze seines Körpers sicher. Wir haben das große Glück, mit Jennifer Minetti eine Schauspielerin zu haben, die schon auch die Wucht einer Figur spielen kann, aber auf der anderen Seite auch das Wacklige und das Verführte. Und den Teil einer Mutter, die es einfach auch ganz schwer hat mit ihrem Sohn, weil sie unter bestimmten Bedingungen aufgewachsen ist - weil man auch nicht weiß, wer eigentlich der Vater von Pentheus ist, wie ist es, wenn man Harmonia zur Mutter hat, die Tochter des Kriegsgottes? Wo sozusagen in so einer Frauenfigur ein unglaubliches Schicksal von einerseits ausgeübter Gewalt und erlittener Gewalt gleichermaßen vorhanden ist. Und es ist einfach eine große Freude, mit ihr darüber zu reden und zu forschen. Uns ist es darauf angekommen, nicht so ein tragisches Monstrum da zu schaffen, sondern genau auf einen Ausdifferenzierungsprozeß zu gucken.

BF: Jede Übersetzung dieses Stücks ist ja auch eine Interpretation, weil das Original nur mit Lücken überliefert ist. Jetzt haben Sie sich für diese sehr poetische, sprachlich aber auch sehr zeitnahe Übersetzung von Raoul Schrott entschieden. Der in seiner Fassung sehr auf die Mutterfigur fokussiert, und jetzt fügt sich das mit Ihrem Blick auf die Vaterfigur zu einer, sagen wir mal, Fortsetzung. Warum haben Sie sich für die Fassung von Raoul Schrott entschieden habe.

CN: Ich finde, daß Raoul Schrott etwas gewagt hat, was im Umgang mit antiken Übersetzungen ganz selten ist. Er hat nicht versucht, die antike Sprache irgendwie zu rekonstruieren. Soweit ich das als Nicht-Graezist beurteilen kann, hat er sehr genau übersetzt, aber er hat das, was er übersetzt hat, übertragen in eine eigene poetische, sprich heutige Sprache. Und damit ist ihm etwas ganz Wunderbares, etwas wirklich sehr Seltenes gelungen. Man hat nicht das Gefühl, einem Rekonstruktionsversuch beizuwohnen, sondern es ist eine Sprache, die ist authentisch, die ist authentisch jetzt. Das muß ihm erstmal einer nachmachen. Wenn man die laut gelesen hat, das war ein ganz anderer Zuhörvorgang, der hat einen wacher gemacht, als bei allen anderen Übersetzungen, die ich gelesen habe. Das ist das eine. Das zweite ist: Klar, jeder interpretiert, Schrott hat auch stark interpretiert, er hat eine Übersetzung gemacht und gleichzeitig seine Sicht oder seine Lesart dieser antiken Tragödie niedergeschrieben. Und jetzt kommt ein Regieteam, ein Lektüreteam auch zusammen mit den Schauspielern und in der Vorbereitung, und da findet man dann andere Schwerpunkte, und ich finde, ein guter Stoff und eine gute Übersetzung, eine gute Übertragung, die halten das aus. Da sind ja ganz viele Schichten drin. Ich finde, jede Interpretation eines Theaters ist ja nicht die Wahrheit, sondern es ist immer ein ganz bestimmter Ansatz. Um die Ecke herum wird es einen zweiten geben, der eine andere Sache beleuchtet. Wenn das authentisch ist, alle beide, dann ist das doch wunderbar. So ist es in einer großen Hochachtung und einem großen Respekt und in einem sehr genauen Lesen dieser Übertragung sozusagen wieder eine Weitererzählung.

BF: Wie nahe kann das Leben in Ihrer Theaterarbeit eigentlich an das Theater herankommen? Sie arbeiten ja aus einem ziemlich realistischen Blick heraus - gibt es diese Abgrenzung überhaupt?

CN: Ich kenne viele Leute, die nichts mit Theater zu tun haben, und mich interessieren unglaublich Familiengeschichten. Wie Menschen aufgewachsen sind, wie sie sich zueinander verhalten, was über Generationen weitergegeben wird, usw. Eher als politische Grundsatzfragen, interessieren mich die Geschichten von kleinen gesellschaftlichen Zellen. Da versuche ich zuzuhören und zuzugucken und aufzunehmen, aufzunehmen, aufzunehmen, und das dann immer wieder gebündelt ins Theater reinzutragen. Ich hätte für mich das Gefühl, wenn ich nur im Theater wäre, würde ich wie unsere Figur Tiresias gegenüber dem, was mich daran interessiert, eigentlich blind werden.

Das Gespräch mit Christof Nel führte Brigitte Fürle (Dramaturgin) am 4. Juli 2005