¯Zurück
 
Spielplan


Termine Großes Haus:

21. / 22. / 26. Januar 2005
17. / 18. Februar 2005
04. / 14. / 31. März 2005
06. / 07. / 13. / 15. / 29. April 2005
11. Mai 2005
24. Juni 2005
01. Juli 2005

Weitere Infos

Hauptartikel Stiller />
Pressestimmen />
Vor fünfzig Jahren erschien Frischs "Stiller"

Weiterführende Links:

Max Frisch: Bibliographien / Biographien / Institutionen />

Zuschauer-Rezensionen lesen />

Stiller

Vor fünfzig Jahren erschien Frischs "Stiller"


So muß man es machen: »Eines Tages, zu Hause, tippte ich wie öfters, wenn ich mich langweile und mich unterhalten muß, ein paar Seiten – ziellos, frei von dem beklemmenden Gefühl, einen Einfall zu haben.« Der da so vor sich hin tippt, ist Max Frisch im Sommer 1953, und weiter heißt es im Brief an den Verleger Suhrkamp: »Das blieben die ersten Seiten vom Stiller, unverändert.« Frisch tippte weiter, bis das nicht gerade schmale Buch nach nur neun Monaten fertig war. So leicht schreibt sich also ein Jahrhundertroman. Nein, ganz so leicht war es dann doch nicht. »Das Material, das ich zum Weitertippen brauchte, stahl ich aus den sechshundert mißlungenen Seiten rücksichtslos …«, liest man im Brief an Suhrkamp. Sechshundert mißlungene Seiten? 1951/52 war Frisch Stipendiat der Rockefeller
Foundation gewesen und hatte in den Vereinigten Staaten und in Mexiko an einem gewaltig anschwellenden Manuskript gearbeitet. Der Noch-Architekt wollte sich seine literarische Produktivität beweisen. Anfang 1952 wurde das Projekt jedoch aufgegeben. Erst ein Jahr später fügte sich das liegengebliebene Material im Zeichen einer Idee – »Ich bin nicht Stiller!« – zum
Romanganzen, schoß wie ein Kristall zusammen. Während der Dramatiker Frisch meist vorgefaßte Ideen in Theaterparabeln goß und dabei auf den Schick der Brechtschen Simplizität setzte, war die Reihenfolge beim Stiller umgekehrt: »Es gab eigentlich nur Material ohne den Sinn des Buches«, meinte der Autor später. Der Sinn, das Problem der »Identität – ein Wort, das in vielen Interpretationen, aber nicht im Roman zu finden ist und seine Faszination heute fast eingebüßt hat –, kam nachträglich hinzu. Deshalb hat das Buch diesen wunderbaren Überschuß an Erzählkraft. […] Niemand sei in der Moderne mehr Herr seiner Geschichte – mit
diesem Befund begründeten Benjamin und Adorno die ›Krise des Erzählens‹. Frischs Roman ist die vielleicht trickreichste Antwort auf diesen Befund. Denn Stiller will mit seiner Geschichte ja selbst nichts zu tun haben. Wie er sein eigenes Verhalten mit distanziertem Spott beschreibt, als wüßte er tatsächlich nur aus den Berichten anderer darüber, wie er gewitzt gegen sich selbst Partei nimmt, es aber doch so tut, daß der Leser in vielen Situationen wiederum mit ihm sympathisiert – das ist eine grandiose Erzählidee, ein Verfremdungseffekt, auf den Brecht
hätte neidisch sein müssen. Sich den Festlegungen entziehen, Vorurteile, Klischees und ›fertige Bilder‹ dekonstruieren: Das ist heute wieder ein großes Thema. Stiller ist sich selbst zum Vorurteil geworden, er leidet unter der gespenstischen ›Mechanik in den menschlichen Beziehungen‹ und will den Stereotypen des Schweizerlebens dringend ntkommen. Aus Amerika zurückgekehrt, mochte Frisch sich tatsächlich wie verhaftet fühlen in der Schweiz. »Alles in diesem Land hat eine beklemmende Hinlänglichkeit«, notiert Stiller. Die Schweiz steht im Ruf, eine ebenso vortreffliche wie enge Welt zu sein – aber der Roman hat eine Weite, wie man sie in bundesdeutscher Prosa jener Jahre vergeblich sucht. Wochenende in ›Neuyork‹, wie es Mr. White schildert – das wirkte damals unerhört weltläufig. Vor allem ist Stiller einer der besten Eheromane der deutschen Literatur. Während Proust die Liebe aus der Perspektive der Eifersucht in den Blick nimmt, Thomas Mann das hingehaltene Begehren und die Erotik des Aufschubs zu seiner Sache macht, geht es bei Frisch um das tragikomische Verfehlen der Geschlechter. Das Aneinandervorbeifühlen von Männern und Frauen – wann wäre es mit einer solchen psychologischen Detailkunst beschrieben worden wie in diesem Roman? Stillers Frau ist die Ballett-Tänzerin Julika, eine faszinie-rende ›femme fragile‹ mit einer ›grazilen Art von Bösartigkeit‹. Auf der Stadttheater- Bühne spielt sie die Bacchantin, zu Hause ist sie eine unterkühlte Migräne-Simulantin. Wechselseitig fesseln sich die beiden durch ihre spezifischen Schwächen und Versagensängste. Stiller braucht Julikas ›Schonungsbedürftigkeit‹,
um sich ›selbst kraftvoller vorzukommen‹. Sie braucht den Mann mit schlechtem Gewissen von vornherein, einen Idioten, der es stets als seine Schuld empfinden wird, wenn etwas nicht klappt. Was Frisch hier an autobio-graphischen Erfahrungen aus seiner ersten Ehe eingebracht hat, darüber kann man nur spekulieren. Sicher ist, daß auch diese Passagen sehr erlebt wirken. Es ist, auch wenn Formulierungen wie die von Julikas ›hochgradiger Frigidität‹ oder ihrer
›mädchenhaften Verhaltenheit im Wort‹ heute etwas angestaubt wirken, ein Geschlechter-drama ersten Ranges, das kommende Rollenwandlungen und Emanzipationen im Blick hat […].
Mit seiner raffinierten Tektonik verbindet Stiller Modernität und höchste Lesbarkeit. Als erster
Roman des Suhrkamp-Verlags erreichte er eine Millionenauflage. In langsamem Wachstum allerdings. Im ersten Jahr wurden gerade mal 3000 Exemplare verkauft; im zweiten waren es 2000, im fünfzehnten dann immerhin schon 10.000. Die Wirkung des Romans auf andere Schriftsteller war enorm, erst recht, wenn man sie mit der des Gantenbein zusammenrechnet, wo Motive und Formen des Stiller radikalisiert werden. Ich-Entwürfe, Rollenspiele, Selbstfindung durch Selbstdistanzierung im Modus des Fingierten – das wurde auf den Spuren Frischs zur literarischen Masche der sechziger und siebziger Jahre. Insbesondere für die Literatur der DDR war das zugleich esellschaftskritische wie existenzielle Schreiben Frischs eine Lizenz für eigene Wagnisse. Die Mutmaßungsprosa eines Uwe Johnson, die Selbstfindungsromane
Christa Wolfs – ohne Stiller undenkbar. Formal ist der Roman das Tagebuch eines Untersuchungshäftlings. Gefangene nicht nur im metaphorischen Sinn sind viele literarische Figuren jenerEpoche. Im selben Jahr wie Stiller erschien Thomas Manns Felix Krull, ein Rollenspieler und Identitätenwechsler, der seine Bekenntnisse in ›völliger Zurück-gezogenheit und Muße‹ schreibt – mit anderen Worten: im Zuchthaus. Ein Jahr später machte die Pariser Erstausgabe von Nabokovs Lolita Furore: Humbert Humbert legt seine Lebensbeichte in Untersuchungshaft ab, wie Stiller. 1959, als Lolita in Amerika zugelassen wurde, erschien der Roman vom Blechtrommler Matzerath, der verhaftet und nach kurzem Prozeß in eine Heil- und Pflegeanstalt zur Beobachtung überwiesen wird, wo er seine Lebensgeschichte aufschreibt. Exzentrische Figuren sind die wahren Repräsentanten dieser Zeit, und die Welt wird ihnen zum Gefängnis. Daß die Situation zwischen Ich und Gesellschaft angespannt war und nach neuen Freiheiten verlangte, macht das Muster des Erzählers im Gefängnis deutlich. Stiller ist eine Figur versuchter Selbstbefreiung, ohne die emanzipatorischen Illusionen folgender Jahrzehnte. Der Roman gehört in die Epoche des vielgeschmähten ›Wirtschaftswunders‹. Abgesehen davon, daß wir heute für ein bißchen Wirtschaftswunder wieder ganz dankbar wären – es ist an der Zeit, die oft gescholtenen fünfziger Jahre literarisch zu rehabilitieren. Wie viele außerordentliche Werke entstanden zwischen 1953 und 1964 – bis der Muff der Ideologie und der ›Politisierung‹ auch die größten Talente erstickte.

Wolfgang Schneider, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.10.2004