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Jean-Perre Vernant: Götter und Menschen


Dionysos in Theben

Im griechischen Pantheon nimmt der Gott Dionysos einen gesonderten Platz ein. Er ist ein umherirrender, umherstreifender Gott, ein Gott des Nirgendwo und Überall. Nichtsdestoweniger verlangt er an den Orten seiner Durchreise volle Anerkennung, einen festen Platz, eine Vorrangstellung. Das gilt ganz besonders für Theben, seine Geburtsstadt, in der er seine Verehrung sicherstellen will. Er betritt die Stadt wie ein Weitgereister, wie ein seltsamer Fremder. Er kehrt mit Theben an seinen Geburtsort zurück, um dort aufgenommen und akzeptiert zu werden, um dort seinen offiziellen Sitz zu errichten. Nomade und seßhaft zugleich, stellt er unter den griechischen Göttern die Figur des Anderen dar, die Figur dessen, was verschieden, verwirrend, beunruhigend, gesetzlos ist. Er ist auch ein epidemischer Gott. Bricht er über einen Ort herein, in dem er unbekannt ist, setzt er sich, kaum daß er angekommen ist, durch, und sein Kult breitet sich einem Strom, einer ansteckenden Krankheit gleich aus.
Unvermittelt gibt sich das Andersartige, das vom eigenen Selbst Verschiedene gerade an Orten zu erkennen, die einem am vertrautesten erscheinen. Es ist wie eine ansteckende Krankheit. Dionysos, umherirrend und beständig zugleich, ist ein Gott, der den Menschen nahesteht. Er stellt zu ihnen Kontakte her, deren Art sich von der unterscheidet, die ansonsten in der griechischen Religion vorherrscht. Es ist ein viel intimeres, persönlicheres, engeres Verhältnis, in dem sich Dionysos und sein Verehrer von Angesicht zu Angesicht gegenüberstehen. Dionysos schaut seinem Verehrer fest ins Auge, und der Verehrer heftet seine hypnotisierten Augen auf das Gesicht, auf die Maske des Dionysos. Trotz seiner Nähe zu den Menschen ist er möglicherweise zugleich der Gott, der ihnen am fernsten steht, er ist unzugänglich und geheimnisvoll, er ist derjenige, dessen man nicht habhaft werden kann, der sich in keinen Rahmen pressen läßt. Von Aphrodite kann man sagen, daß sie die Göttin der Liebe ist, von Athen, daß sie die Göttin des Krieges und des Wissens ist, und von Hephaistos, daß er der Gott des Handwerks, ein Schmied ist. Dionysos indes läßt sich in keine Schublade stecken. Er ist in allen Schubladen und in keiner, er ist an- und abwesend zugleich. Die ihn betreffenden Geschichten erhalten eine etwas anderen Bedeutung, denkt man nach über die Spannung zwischen der Tatsache, daß er stets auf der Durchreise ist, unterwegs auf Streifzügen und Irrfahrten, und der Tatsache, daß er ein Heim will, etwas wo man hingehört, wo man sich niederläßt, wo man mehr ist als nur akzeptiert: auserwählt.

Der Gebärmutterschenkel
Ähnlich wie Europa ist Semele ein entzückendes Wesen. Zeus geht mit ihr eine Verbindung ein, die über den Tag hinausgeht, ja, sogar recht lange andauern wird. Semele, die weiß, daß es sich bei der menschlichen Gestalt, die sich jede Nacht zu ihr legt, um Zeus handelt, möchte, daß der Gott ihr in seiner wahren Gestalt, in seiner Erhabenheit als Herrscher der gesegneten Unsterblichen erscheint. Unaufhörlich fleht sie ihn an, damit er sich ihr zeige. Auch wenn die Götter mitunter ihren Hochzeitsfesten beiwohnen, ist die anmaßende Forderung, sich ihnen unverkleidet zu zeigen, für die Menschen nicht ohne Gefahr. Als Zeus Semeles Bitten nachgibt und in seiner ganzen vernichtenden Pracht erscheint, wird Semele vom göttlichen Glanz, vom Leuchten und von der Glut des Liebhabers verzehrt. Sie verbrennt. Da sie von Zeus bereits ein Kind im Bauch trägt, Dionysos, zögert Zeus keine Sekunde. Er holt den kleinen Dionysos aus Semeles sich verzehrendem Körper, öffnet seinen eigenen Schenkel, den er in die Gebärmutter einer Frau verwandelt, und setzt den kleinen Dionysos hinein, der zu diesem Zeitpunkt ein sechs Monate alter Fötus ist. So wird Dionysos zweimal Zeus’ Sohn, er wird zum „Zweimalgeborenen“. Als die Zeit heran ist, öffnet Zeus wieder seinen Schenkel und zieht den kleinen Dionysos genau wie aus Semeles Bauch heraus. Es ist ein seltsames, vom göttlichen Standpunkt aus gesehen außergewöhnliches Kind, da es sowohl der Sohn einer Sterblichen als auch der Sohn des zeus in seiner ganzen Pracht ist. Es ist ein merkwürdiges Kind, denn es wurde zum Teil im Bauch einer Frau ernährt und zum Teil in Jupiters, in Zeus’ Schenkel. Dionysos wird gegen die hartnäckige Eifersucht Heras anzukämpfen haben, die Zeus seine Seitensprünge nicht ohne weiteres vergibt und den Früchten seiner heimlichen Liebschaften übel gesonnen ist. Eine von Zeus’ großen Sorgen besteht darin, Dionysos Heras Blick zu entziehen, ihn der Obhut von Ammen anzuvertrauen, die ihn verstecken.
Als er größer ist, beginnt auch er, umherzustreifen. Oft wird er von mächtigen Personen verfolgt. So etwa, als er als junger Gott Thrakien erreicht und einen Zug von jungen Bacchantinnen im Gefolge hat. Lykurgos, der König des Landes, ist über die Ankunft des jungen Fremden, der vorgibt, ein Gott zu sein, und von dem man nicht recht weiß, woher er kommt, alles andere als begeistert, ganz zu schweigen von den jungen Frauen, die in einem Delirium sind wie fanatische Anhänger einer neuen Gottheit. Lykurgos läßt die Bacchantinnen festnehmen und wirft sie ins Gefängnis. Dionysos’ Macht allein reicht aus, um sie zu befreien. Lykurgos verfolgt den Gott und zwingt ihn in die Flucht. Bei der Verfolgungsjagd steht Dionysos, eine aufgrund ihres femininen Aussehens zwielichtige, zweideutige Gottheit, Todesängste aus. Um Lykurgos schließlich zu entkommen, stürzt er sich ins Wasser. Die Göttin Thetis, die spätere Mutter Achilleus’, versteckt ihn eine Zeitlang in den Tiefen des Meeres. Nach dieser Art geheimer Initiation verschwindet Dionysos aus Griechenland. Er setzt nach Asien über, dessen Territorien er mit einer Armee von treuen Anhängern, unter denen sich vor allem Frauen befinden, durchquert und erobert. Diese Frauen tragen nicht die typischen Waffen eines Kriegers, sondern teilen mit Thyrsusstäben Hiebe aus. Die Thyrsusstäbe sind große spitze Pflanzenstäbe, auf die man Pinienzapfen steckte und denen man übernatürliche Kräfte zusprach. Dionysos und seine Anhänger schlagen sämtliche Armeen in die Flucht, die sich ihnen entgegenstellen, um seinen Vormarsch zu stoppen. Siegreich durchquert er Asien. Dann kehrt er nach Griechenland zurück.


Der Wanderprediger und die wildgewordenen Frauen

Das kleine, vom Haß der Stiefmutter verfolgte Kind, der junge, umherirrende Gott, der gezwungen war, sich ins Wasser zu werfen und in den Tiefen des Meeres zu verbergen, um dem Zorn des thrakischen Königs zu entgehen, kehrt jetzt als Erwachsener nach Theben zurück. Zum Zeitpunkt seiner Rückkehr wird Theben von Pentheus, dem Sohn seiner Tante Agauë, der Schwester seiner Mutter Semele, regiert. Semel ist tot. Auch Agauës Gemahl Echion, einer der fünf Gesäten, ist gestorben, nachdem er mit ihr einen Sohn gezeugt hatte. Dieser Sprößling erhält seinen königlichen Titel von Kadmos, seinem Großvater mütterlicherseits, der zwar immer noch am laben, aber zum Regieren zu betagt ist. Von Echion erbte Pentheus den vertrauten Umgang mit der thebanischen Erde, die lokale Verwurzelung, das gewalttätige Temperament, die Unbeugsamkeit und den Stolz des Soldaten.
Als Dionysos Theben, eine Art Modell für den griechischen Stadtstaat der vorklassischen Zeit, erreicht, ist er verkleidet. Er stellt sich nicht als Gott Dionysos, sondern als ein Priester des Gottes vor. Mit seiner Frauenkleidung, seinen langen, auf den Rücken herabfallenden Haaren, seinen dunklen Augen, seiner verführerischen Erscheinung und seiner schönen Rede hat der Wanderpriester alles vom orientalischen Metöken, er weist all das auf, was den im thebanischen Boden „Gesäten“ Pentheus stören und aufbringen kann. Beide sind ungefähr gleich alt. Pentheus ist ein junger König, und der angebliche Priester ist ein ebenso junger Gott. Den Priester umgeben Lyderinnen, ein ganzer Schwarm jüngerer und älterer Frauen aus dem Orientder hier sowohl als Physiognomie als auch als Lebensart in Erscheinung tritt. Sie lärmen in Thebens Straßen, setzen sich hin, essen und schlafen unter freiem Himmel. Als Pentheus das sieht, wird er von Wut gepackt. Was hat diese Bande Umherirrender hier zu suchen? Er will sie verjagen. Das Problem ist, daß die Thebaner damit einen ganzen Teil ihrer Familiengeschichte verleugnen. Dionysos kann den Schwestern seiner Mutter, Kadmos’ Töchtern, und insbesondere Agauë die Behauptung nicht vergeben, daß Semele nie ein Verhältnis mit Zeus gehabt habe, daß sie eine Hysterikerin gewesen sei, bei der man nie genau wußte, mit wem sie sich herumtrieb, daß sie wegen ihrer Unvorsichtigkeit bei einem Brand ums Leben gekommen sei und daß ihr Sohn, wenn sie denn wirklich einen gehabt habe, gestorben sei; auf keinen Fall konnte er ein Sohn des Zeus sein. Die Thebaner verleugnen die Tatsache, daß Semele mit dem Göttlichen in Verbindung stand, auch wenn es ihr Vergehen war, diese Verbindung zu eng gewollt zu haben: für die Thebaner sind das lediglich frei erfundene Märchen. Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia hatte zugegebenermaßen stattgefunden, aber da ging es darum, eine menschliche, nach rein menschlichen Kriterien organisierte Stadt zu gründen. Dionysos dagegen will die Verbindung zum Göttlichen wieder herstellen – aber eine andere Verbindung als die, die zum Zeitpunkt des Hochzeitsfestes von kadmos und Harmonia existierte. Er will sie nicht aus Anlaß eines Festes oder einer Zeremonie wieder herstellen, zu denen die Götter sich selbst einladen, um danach sofort wieder abzufahren, sondern im Leben der Menschen selber, im politischen und bürgerlichen Leben Thebens. Er gedenkt, einen Impuls zu geben, der jedem einzelnen im täglichen Dasein eine neue Dimension eröffnet. Dafür verdreht er den Frauen von Theben den Kopf, jenen Matronen, die ihre feste Stellung als Ehefrauen und Mütter innehaben und deren Lebensweise der der Lyderinnen, aus denen sich Dionysos’ Gefolge zusammensetzt, genau entgegengesetzt ist. Diese Thebanerinnen nun sind es, die der Gott mit Wahnsinn schlägt.

Jean-Pierre Vernant: Götter und Menschen, DuMont Verlag, Köln 2000