¯Zurück
 
Spielplan


Termine Kleines Haus:

28. April 2003
02. / 03. / 04. / 07. / 09. / 15. / 30. Mai 2003
13. / 14. Juni 2003
29. / 30. November 2003
06. / 13. Dezember 2003
14. Januar 2004
01. / 02. / 07. April 2004

Downloads:

Ein Fuß im Schnee und einer im Sand - Ein Vortrag von Henning Mankell [doc] />
Henning Mankell im Gespräch mit Brigitte Fürle [doc] />
Kurzbeschreibung und Besetzung "Zeit im Dunkel"  [doc] />

Zuschauer-Rezensionen lesen />

Zeit im Dunkeln

Deutschsprachige Erstaufführung
Henning Mankell
Aus dem Schwedischen von Hansjörg Betschart
Premiere: Mai 2003/ Kleines Haus
Dauer 1,5 h

Regie: Henning Mankell; Dramaturgie: Brigitte Fürle; Darsteller: Nicola Gründel, Udo Samel



Vater und Tochter aus einem nichtgenannten islamisch- afrikanischen Land vegetieren als illegale Flüchtlinge in einer dunklen, anonymen Wohnung in Schweden, „ein komisches Land, in dem es zu kalt ist, um draußen zu sitzen und zu essen“. Nach Australien oder Kanada sollte die Reise gehen. In einem luftarmen Container wurden sie wie Vieh über Spanien nach Schweden gebracht. Die Mutter kam bei der Flucht ums Leben. Für die Tochter ist der Vater mitschuldig an ihrem Tod. Die Beiden warten auf Papiere und Weitertransport. Doch was, wenn niemand mehr kommt? Der autoritäre, in seinen Traditionen verwurzelte Vater mit politischer Vergangenheit verlässt niemals das Haus, weigert sich die neue Realität und die neuen Umstände anzuerkennen, die Tochter sorgt für das Nötigste. Sie erkundet die neue Welt, versucht sich in einer anderen Sprache und anderen Gebräuchen zurechtzufinden. Sie „will nicht mehr unterwegssein“, will endlich irgendwo ankommen, auch bei sich. Sie schneidet ihre lange Haare ab, vergräbt die Hälfte in der neuen Erde, als könnte Heimat daraus erwachsen. Die andere Hälfte nimmt sie mit zum Vater als Protest und Erinnerung. Die Illegalität, die ständige Angst vor dem Entdecktwerden, das Eingesperrtsein in einer fremden Welt schaffen Identitätskrisen, paranoid gewalttätige Momente und gegenseitiges Misstrauen, dennoch können beide nur überleben, wenn sie zusammenhalten. Ein Leben in Dunkelheit, als ob sie gar nicht existierten und der helle Kampf um Identität, Zukunft und Selbstwertgefühl.
Der in Deutschland hauptsächlich als Krimiautor bekannte Henning Mankell weiß, wovon er schreibt: “Ich stehe mit einem Fuß im schwedischen Schnee, mit dem anderen im afrikanischen Sand“, sagte er in einem Interview. Der gebürtige Schwede lebt seit Jahren in einem ständigen Hin und Her zwischen Schweden und Afrika. Er schreibt und inszeniert seine Stücke für ein Theater in Mosambik, „dort sind 75 Prozent der Bevölkerung Analphabeten. Wir bringen den Alltag auf die Bühne und wollen so den Zuschauern ein Stück von ihrem Leben zeigen. Unsere Stücke beruhen auf Erzählungen. Wir könnten auch Hamlet spielen, aber das bringt nichts. Momentan jedenfalls. Es gibt Wichtigeres.“ Und das ist das Geheimnis von Mankells Stücken. Sie sind einfach, ungekünstelt und unspektakulär und zeigen nicht mehr und nicht weniger als ein Stück unbemerktes, fremdes Leben und schaffen dabei ein fast nicht mehr für möglich gehaltenes politisches Moment. Ganz im Gegenteil zu seinen Kriminalgeschichten, geschieht in „Zeit im Dunkel“ fast nichts. Und dieses Fastnichts wird phänomenologisch von allen Seiten betrachtet. Unterschiedliche Kulturen, Gemeinschaften, Sehnsüchte, politische und menschliche Realitäten stoßen dabei so unvermittelt und kommentarlos aufeinander, dass einem der Atem beim Lesen stockt. Dabei wird nur eine einzige Nacht beschrieben – ganz klassisch: die Einbehaltung der Einheit von Zeit, Raum und Handlung –, in der alles geschehen könnte und doch alles so bleibt wie es ist. Doch, was ist das, was da ist und fast nicht ist? Obwohl sich das Stück in unscheinbaren, fast banalen Andeutungen erschöpft, entfaltet es die Kraft einer großen klassischen Tragödie, entlarvt einen lebenslänglichen Selbstbetrug, leuchtet mikroskopisch Hintergründe aus, die wie Regentropfen in die Wüste unserer doch so aufgeklärten Welt fallen. Mankell benutzt das Mittel der Nahaufnahme, alles scheint überklar und dennoch fehlt der Überblick, ist der Hintergrund verschwommen. Mankell versucht, eine ganz kleine Geschichte und das Fehlen der Geschichte zu erzählen. Eine Geschichte, die selber wie ein Versteck ist, ein Niemandsland zwischen festen und festgefahrenen Ordnungen und dem Neuen, was da endlich kommen müßte. Ein Mikrokosmos, der mikroskopisch das Fehlen von Welt und Menschlichkeit konstatiert und dabei zwei Menschen zeigt, die mit allem, was sie haben, um ihr scheinbar wertloses und chancenloses Leben kämpfen. Mankell schreibt und beschreibt die Kunst der Armut und schreibt damit gegen die Armut an, vor allem auch gegen die Armut unseres politischen Selbstverständnisses und die Armut der Sensibilität und der Phantasie.

Jens Groß, Chefdramaturg
aus TheaterHeute Jahrbuch 2002