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Interview:

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//Gold / 92 bars in a crashed car

Interview mit Saskia Boddeke und Peter Greenaway

Bühne: Florian Parbs; Musik: Borut Krzisnik; Video: Peter Wilms; Dramaturgie: Claus Caesar, Peter Kroher; Darsteller: Stéphane Bittoun, Daniel Christensen, Nina Hecklau, Melina Hepp, Ulrike Kinbach, Albert Kitzl, Susanna Lammertz, Armin Nufer, Viktor Vössing, Nikola Weisse


Herr Greenaway, der Abend handelt zunächst von Holocaust-Gold. Sie haben die Geschichten geschrieben, um die sich die Aufführung dreht. Welche Beziehung haben sie untereinander? Folgen sie einer bestimmten Struktur?

//Peter Greenaway: Es sind 92 Geschichten, die ursprünglich als literarische Texte geschrieben wurden. Ihnen allen ist gemeinsam, daß sie auf einem Goldbarren beruhen, einem Barren pro Geschichte, der aus konfisziertem Gold gemacht wurde, gestohlen von Opfern des Dritten Reichs in ganz Europa. Der Zeitraum ist irgendwann zwischen 1928 und 1946. Es gibt darin eine sehr große Anzahl von Ereignissen, viele Charaktere und hunderte von erzählerischen Details. Alle Goldbarren landen im norditalienischen Bozen bei einem Autounfall, der mit dem deutschen Leutnant Gustav Harpsch und einem Schimmel in Verbindung steht. Der Leutnant hat eine viertägige Reise aus Baden-Baden hinter sich, ist auf dem Weg in den Süden der Schweiz und hofft, mit den Goldbarren seine Tochter frei zu bekommen, die ihm weggenommen wurde und die er dort in einem Waisenhaus vermutet. Bozen steht im Ruf, daß man dort keine guten Spaghetti machen könne. In der Fülle der Details gibt es sechs Verbindungspunkte, die immer wiederkehren, die Herstellung eines Goldbarrens, der Unfall bei Bozen, der deutsche Leutnant Harpsch, seine Tochter Fidelia, die Tatsache, daß man in Bozen keine guten Spaghetti machen kann, und die Zahl 92, die Atomzahl des Urans.
Saskia hat aus den 92 Geschichten diejenigen ausgewählt, die sie auf der Bühne verwenden wollte. Außerdem hat sie angegeben, alle anderen Geschichten für damit verbundene theatrale oder dramatische Vorgänge und für Projektionen heranzuziehen, im Vorderhaus und bei Installationen im Foyer. Vom Prinzip her werden die Geschichten zu einem Publikum hin erzählt, entweder im Zuschauerraum oder an anderen Orten im Theater. Sie sind im wesentlichen nicht auf herkömmliche Weise bearbeitet, indem Figuren miteinander interagieren. Die Verbindungen sind assoziativ. Die Richtlinie ist der Wunsch, den Schmerz, die Zerstörung und das Chaos zu zeigen, das durch Angst und Intoleranz hervorgerufen wird.

Sind die Geschichten fiktional oder haben Sie auf historische Fakten zurückgegriffen? Geht es darum, Geschichte im Modus der Fiktion zu erzählen?

//Peter Greenaway: Ich glaube, daß es so etwas wie Historie nicht gibt, sondern daß es nur Historiker gibt. Unser Wissen von Geschichte – dieser Geschichte oder einer anderen – basiert auf Texten – und auf, im Vergleich dazu, kostbaren kleinen Bildern –, und alle Texte sind subjektiv. Historiker können als Geschichtenerzähler beschrieben werden. Dieser Abend ist keine Dokumentation. Trotzdem bin ich mir sicher, daß es ein kollektives Wissen hinter all diesen Geschichten gibt: Wir sind vertraut mit den Typen von Grausamkeiten, der einfachen Eliminierung des Unerwünschten, den herzlosen Zerstörungen, den verzweifelten Fluchten, den persönlichen Rachefeldzügen, die sich als politische Gerechtigkeit ausgeben, der Verachtung von Minoritäten und so weiter. Doch alle einzelnen Geschichten, die hier vorgestellt werden, sind tatsächlich Fiktionen, die unmöglich als sogenannte Geschichte verifiziert werden können. Die historischen Details im Hintergrund, Ereignisse, Orte und Persönlichkeiten sind wahr, Stalingrad, Obersalzberg, Eva Braun, Roosevelt, Dachau, aber die Figuren im Vordergrund und ihre Erfahrungen sind fiktional.

Frau Boddeke, am Anfang der Proben sagten Sie, daß GOLD nicht nur von Holocaust-Gold handeln würde, sondern ebenso eine Übung im Geschichten-Erzählen sei, an exercise in story-telling. Was ist darunter zu verstehen?

// Saskia Boddeke: Dramen auf der Bühne sind aufgeführte Erzählungen – warum sollte man also die Dramen nicht zurückführen auf ihr ursprüngliches Format? Es geht darum, die Geschichte geradeheraus erzählen, direkt zum Publikum hin, nicht darum, sie über theatrale Situationen elegant zu machen, damit sie genießbarer und leichter verdaulich werden. Mündliches Erzählen ist eine Kunst, die nicht mehr gepflegt wird, außer vielleicht im Radio oder wenn man Kindern Geschichten erzählt, doch unsere täglichen Unterhaltungen sind ständig durchsetzt davon, Geschichten zu erzählen. Es gibt Anforderungen und Konventionen – die größte Anforderung ist die, die vollkommene Aufmerksamkeit des Publikums aufrecht zu erhalten. Die Konventionen verlangen, auf Kohärenz zu achten, Anfänge und Schlüsse zu schaffen und das Erzählen den Interessen und dem Verständnis des Publikums anzupassen. Hier in Frankfurt haben wir nicht nur einen einzigen Geschichten-Erzähler, sondern viele, und wir haben eine große Bühne – und ein großes Publikum, so daß bestimmte Dinge notwendig sind – und wir greifen auf viele Dinge zurück, die dem Erzählen helfen und es unterstützen. Kaum ein Erzähler hat nur seine Stimme benutzt – sie oder er haben ihre Präsenz genutzt, ihre Pose, ihre Haltung, ihre Bewegungen, ihre räumliche Umgebung, Gesichts-Ausdrücke. Wir erweitern das Vokabular innerhalb des Bühnen-Vokabulars und richten es dann mit Vokabular des Kinos zusammen aus. Ich habe versucht, so viele Elemente wie möglich zu nutzen, um die Geschichten zu erzählen. Für mich sind diese Ebenen vor allem die Schauspieler, das Licht, der Sound und die Videoprojektionen. Auf der Bühne spielen wir mit der Zeit. Die Figuren sind Reisende, die nicht wissen, daß die Zeit still steht. Um Realismus geht es dabei nicht.
Ich möchte noch hinzufügen, daß die Geschichten als Texte gedacht waren, und es gibt viele von ihnen. 92 Texte sind eine ganze Menge an Erzählungen, so daß wir eine besondere Auswahl für die Präsentation auf der Bühne gemacht haben. Aber jede der 92 Geschichten wird in der ein oder anderen Form wieder erkannt. Mit der bloßen Ansammlung von Erzählungen über ein Thema, die gewaltsame Beschlagnahme von Gold der Opfer des Dritten Reichs und seiner Verbündeten, wollen wir eine bestimmte Wirkung erzielen. Von beschlagnahmten Wertsachen zu erzählen, heißt natürlich auch, von Grausamkeit und Herzlosigkeit zu erzählen, Gemeinschaften zu zeigen, die im Terror leben. Die Diskussion über die Beschlagnahme von Wertsachen mag ironisch und zweideutig anmuten, denn es ist ein Thema, das verbunden ist mit Habgier und Neid, aber das wäre ein Vorwand für ein Ende der Diskussion über Verfolgung und die Herrschaft des Terrors, das vollkommen inakzeptabel ist. Es ist eine Lektion mit enormen Resonanzen und wird dies wieder und wieder sein.

Die Figuren auf der Bühne, mit Ausnahme von Fidelia allesamt Tote, haben den Drang, ihre Geschichten erzählen zu müssen. Dies läßt sich leicht als Metapher für die andauernde Gegenwart der deutschen Vergangenheit interpretieren. Welche politische Bedeutung hat der Abend für Sie?

// Saskia Boddeke: Alle Arbeiten haben politische Relevanz, auch wenn sie noch so sehr versuchen, sich nicht als politisch zu begreifen. Es gibt eine Verpflichtung und eine Notwendigkeit, Geschichten wie diese zu erzählen und immer wieder zu erzählen, – besonders zu der Zeit von Faschismus und Totalitarismus des frühen 20. Jahrhunderts. Wir dürfen nicht immer glauben, es sei eine vergessene Geschichte – das Inakzeptable daran, daß Menschen gezwungen werden in Angst und Verfolgung zu leben, die Lizenz zu töten und zu verstümmeln und zu verstümmeln, ausgestellt durch staatliche Politik und Struktur – es ist für alle Zeiten verboten, absolut verboten. Das kollektive Gedächtnis ist bejammernswert kurz und lückenhaft – es muß ständig dazu veranlaßt werden, sich zu erinnern. Wir müssen nicht extra betonen, daß die jüngste amerikanische Geschichte in diesen bekannten politischen Bereichen zu Auseinandersetzungen, Diskussionen, Handlungen und Reaktionen herausfordert.

Frau Boddeke, Sie benutzen auf der Bühne eine große Anzahl neuer Medien; es gibt nicht nur Schauspieler, sondern auch einen Opernsänger und eine Tänzerin. Wie begreifen Sie Ihre Idee von Theater? Glauben Sie, daß das Theater gegenwärtig seine Sprache verändert?

// Saskia Boddeke: Ich denke, daß dies eine seltsame Frage ist, die heutzutage eine selbst-evidente Antwort hat. Alle schöpferischen Menschen haben die Technologien und Sprachen ihrer Zeit genutzt, und Multi-Media-Projekte sind heute sicherlich Teil des gegenwärtigen Vokabulars, eine gegenseitige Befruchtung verschiedener Typen von Performances, von verschiedenen und manchmal parallelen Arten, über Ereignisse zu erzählen. Wir glauben, daß es von zentraler Bedeutung ist, verschiedene Disziplinen zu benutzen. Die Kommunikation mit einem Publikum ist facettenreich und andere, populärere Medien haben Maßstäbe gesetzt, die nicht ignoriert werden können. Es gibt so viele interessante Sprachen, an denen man teilhaben kann. Theater und Opernhäuser treiben ihre Techniken voran. Zweifellos haben neue Technologien ständig und weitreichend Theater beeinflußt. Das Aufkommen der Elektrizität hat Theater zu einem Erlebnis werden lassen, das nach Einbruch der Dunkelheit stattfindet. Sie erlaubte größere Bühnen, die anders beleuchtet werden konnten. Soundtechnologien schafften eine größere Möglichkeiten für die Vortragsweise der Schauspieler – Flüstern, Verzerrungen, Sprechen mit dem Rücken zum Publikum, Wechselwirkungen auf und abseits der Bühne. Man könnte sagen, daß sowohl das Aufkommen der Elektrizität als auch die neuen Soundtechniken dadurch, daß sie im Theater benutzt wurden, für die großen Revolutionen in der dramatischen Kunst des 20. Jahrhunderts gesorgt haben – für das Kino und die Schallplattenindustrie, dann für das ganze Phänomen von Radio und Fernsehen.
Ich glaube an traditionelle und notwendige Erfordernisse bei einer Aufführung, aber ich arbeite gerne daran, das Vokabular zu erweitern. Und ich glaube, daß wir das alle müssen. Es ist ein erzieherischer Akt, wir erziehen uns selbst, so wie wir auch hoffen, das Publikum zu erziehen. Das letztendliche Ziel ist ein besserer Ausdruck von Ideen und Ereignissen und ein weitreichenderes Erfassen der Welt, all ihrer Aktivitäten und Erfahrungen. Ein einzelner Erzähler, der einem Ein-Personen-Publikum etwas erzählt, ist wichtig und bleibt Basis von jedermann, aber darauf aufzubauen, ist strapaziös, aufregend und erhellend. Laßt uns viele Sprachen verwenden, denn wir haben sie jetzt in Fülle zur Verfügung.

Herr Greenaway, in einem Interview haben Sie sinngemäß einmal gesagt, der größte Teil dessen, was im Kino zu sehen sei, sei keine visuelle Kunst, sondern illustrierter Text. Gilt das auch für Theater?

// Peter Greenaway: Ich glaube, es stimmt, daß 90 Prozent aller Filme illustrierter Text sind. Seit 105 Jahren geht man im Kino auf diese Weise vor: Man schreibt einen Text, ein Drehbuch, besorgt das Geld und bemüht sich um Interesse und Vertrauen zu den Sätzen und überträgt sie dann in Bilder – um einen Text zu illustrieren. Dies ist, finde ich, keine Tätigkeit für einen schöpferischen Menschen und unbefriedigend für alle Beteiligten, die Zuschauer inbegriffen. Doch Theater wird, zumindest in der westlichen Welt, seit mehr als dreitausend Jahren als Text überliefert. Zunächst einmal schätzen wir uns glücklich, hier in Frankfurt für den Text und die nachfolgende Interpretation auf der Bühne verantwortlich zu sein. Aber dies ist nicht die Dramatisierung eines Textes, wie man etwa einen Roman in ein Stück verwandeln würde, sondern das Bestreben, einen Text als Text vorzustellen, wenn auch als gesprochenen Text. Ich bin seit langem enttäuscht über die sklavische Abhängigkeit des Kinos vom Text und freue mich deshalb, daß ich im mich Theater nicht aufgrund der gleichen Sorgen unbehaglich fühlen muß. Theater kann zu Recht als dramatisierter Text verstanden werden. Unsere Idee ist es, die Orthodoxie ein wenig zu unterlaufen, indem wir es ablehnen, auf die herkömmliche Weise zu dramatisieren. Das Bühnenbild wird einfach sein, neun Schauspieler in maßvollen Kostümen auf einer im wesentlichen schwarzen Bühne mit Wasser. Aber die Bildsymbolik ist barock – eingerichtet durch Projektionen auf zehn Leinwände, neun davon arrangiert als Panorama und einer Projektion direkt auf den Bühnenboden.

Harpsch‘ Unfall passiert im letzten Moment des Zweiten Weltkriegs, der für Sie die Grenze markiert zwischen dem Zeitalter des Golds und dem Zeitalter des Urans. Wenn Gold über den Vorgang des Einschmelzens eher für Integration steht, ist Uran das Zeichen des Zerfalls. Läßt sich über diese Begriffspaare die Geschichte des 20. Jahrhunderts charakterisieren?

// Peter Greenaway: Sie denken hier in Dualitäten, was möglicherweise nicht so interessant ist. In einer postmodernen Welt sollten wir solche Einfachheiten vergessen. Ich hoffe, daß GOLD auf ganz verschiedene Art und Weise betrachtet werden kann, ohne daß diese Möglichkeiten einander entgegen gesetzt werden müssen. Seit jeher ist gewonnenes Gold der Grundstoff der Macht gewesen. Der Aufstieg und der Fall so vieler Reiche ist mit Gold verknüpft – man denke an Spaniens Beziehung zu Südamerika – doch mit dem Ereignis von Hiroshima 1945 hat sich viel geändert. Macht wurde jetzt buchstäblich verkörpert von Uran, dem Element der totalen Zerstörung. Die Macht des Goldes kniet nieder vor der Gewalt des Urans. Aber wir setzen nicht das Gold dem Uran entgegen. Der Großteil der Weltgeschichte nach 1945 steht in Beziehung zum Besitz von atomarer Macht. In dieser Hinsicht bereiten die letzten Monate, Wochen und Tage des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und Japan die Geschichte des Westens, wenn nicht sogar die der Welt vor, für die kommenden 50 Jahre und darüber hinaus. Dieser Theaterabend ist natürlich eine sich ihrer selbst bewußte Konstruktion, und solche ausgestellten Konstruktionen dürfen wir legitimerweise nutzen. In einer Welt, die nichts Beständiges, Verläßliches oder Zuverlässiges mehr hat, nichts, das als Wahrheit betrachtet werden kann und in der sich Politik, Religion und allgemeine Meinungen in ständigem Fluß befinden, kann das Periodensystem der Elemente ein abstrakter Verweis auf Stabilität sein. Die Elemente, die den Text auf diesem Papier bilden, sind mit genau den gleichen Atomzahlen vorhanden wie die Stoffe und Materialien an den Rändern des Universums – ein befriedigender Gedanke auf der Suche nach Beständigkeit, obwohl er mit einer impliziten Ironie daherkommt, denn brauchen wir überhaupt eine solche Beständigkeit, und was zeichnet Atomzahlen überhaupt aus im alltäglichen Angesicht menschlicher Grausamkeit und Habgier?

(Fragen und Übersetzung: Claus Caesar)