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Lucretia Borgia

Elisabeth Schweeger im Gespräch mit Silvia Bovenschen


Elisabeth Schweeger: Frau Bovenschen, Ihr Buch "Die imaginierte Weiblichkeit" hat mir geholfen, mit diesem seltsamen Stoff „Lucretia Borgia“umzugehen.
Sie zeigen viele interessante Aspekte des 18. und 19. Jahrhunderts auf.

Silvia Bovenschen: Im Drama des 18. Jahr-hunderts wird uns Weiblichkeit häufig in einer Doppelgestalt vorgeführt, wir haben es
– etwas schematisch verkürzt gesagt – mit zwei polar aufeinander verweisenden Konstrukten zu tun: der bürgerlich tugendhaften und der militant adligen Frau. Denken Sie an Emilia Galotti versus Orsina, oder an Luise Miller versus Lady Milford, oder an Käthchen von Heilbronn versus Kunigunde von Thurneck und viele mehr. Im 19. Jahrhundert hingegen treten vermehrt diese männermordenden Monsterfrauen auf den literarischen Plan: Dalilah, Judith, Salome. Es wäre naheliegend, die Dramengestalt der Lucretia Borgia in diese Genealogie zu rücken. Diese Figuren scheinen ihre Gefährlichkeit dadurch zu gewinnen, daß sie zuweilen als Rächerinnen einer unterdrückten ›Frauennatur‹ gedacht, archaisch zerstörerisch in die Ordnungen der männlich dominierten Zivilisation einbrechen, jenseits jeder Moralität, jenseits jeden Unrechts-bewußtseins, jenseits jeder Rationalität. Letzteres kann man allerdings von dieser Lucretia Borgia nicht behaupten, im Gegenteil, sie handelt sehr zweckrational, ihre Grau-samkeiten unterstehen einem
systemimmanenten Machtkalkül. Auch die Rächerin kann ich in ihr nicht so recht erkennen. Ihre Eindimensionalität macht mich ein wenig ratlos.

Schweeger: Sie sagt, ich habe Macht, und deshalb habe ich alle Möglichkeiten.

Bovenschen: Sie ist maßlos grausam, all diese Morde, die sie veranlaßt und all die Gifte, die sie mischt. Aber in dieser Grausamkeit ist sie konform mit dem Gewaltsystem, in dem sie operiert. Dann jedoch kommt sie in einen Konflikt zwischen ihren ›männlichen‹
Herrschaftsgewohnheiten und ihren mütter-lichen Gefühlen. Der Text legt nahe, daß ihr hier ein von ihr selbst nicht ganz kontrollier-barer ›mütterlicher Instinkt‹ in die Quere kommt.
Es gibt zwei Momente in dem Stück, die mich interessieren: Lucretia selbst beschreibt ihren Konflikt an einer Stelle als den Gegensatz zwischen ihrem ›Charakter‹ und ihrem ›Herzen‹. Das ist eine ungewöhnliche
Polarität. Vielleicht kann man daraus etwas machen. Und interessant finde ich auch eine
Äußerung ihres Vasallen Gubetta, der sagt, daß er mit Lucretias mörderischen Macht-
strategien gut zurechtkomme, daß aber die Devise der Tugend, die Lucretia Borgia unvermittelt ausgibt, weit über seine Kraft gehe. Ihm ist die unverstellte, machtgierige Gewalttätigkeit lieber. Lucretia selbst wechselt ja auch nicht aus innerer Über-zeugung zu dieser Tugenddevise, sie ist ihr nur ein neues strategisches Instrument zur Wahrung ihrer Interessen, in diesem Fall, um den Sohn zu gewinnen und zu retten. Aber alle ihre Rettungsmaßnahmen münden ja schließlich wiederum in die alten Strategien, also Gift vertauschen und Gegengift ein-setzen. Auch in der Rettungsaktion verfährt sie nicht anders als es den Gesetzen der Männerdespotie, in der sie lebt, entspricht. Das alles ist völlig unpsychologisch in Szene gesetzt. Diese Lucretia ist eine ganz künstliche Figur, sie ist eine Gedankenfigur.

Schweeger: Ich dachte ja, daß man mit dem Klischeebild operieren kann. Der Sohn macht sich ein Bild von der Mutter. Die Mutter macht sich ein Bild von dem Sohn. Alle machen sich ein Bild von dem anderen. Aber keiner s i e h t den anderen. Alle Figuren sind eigentlich Projektionen oder Bildflächen, sind nicht real. Es läuft nie direkt, sondern auf einer falschen Ebene ab.

Bovenschen: Das leuchtet mir ein. Der Sohn ist im Grunde ein Taschenparzival. Herkunftslos irrt er herum, er fragt nicht, und er interessiert sich auch nicht für die Erzählungen seiner Kameraden, die ihm vielleicht Aufschluß über sich selbst geben könnten. Er hat zwei Schwachpunkte, nämlich einen konstruierten Bruder – und das Mutterbild.

Schweeger: Es ist eine Seifenoper. Es hat etwas ganz Triviales. Allerdings: Hugo nimmt es zwar tragisch, aber eigentlich führt er es in die Groteske.

Bovenschen: Ist das nicht eher unfreiwillig?

Schweeger: Nein, das ist bei Hugo nie unfreiwillig. Das entspricht seiner Programmatik. Und Armin Petras interessiert die Renaissancezeit, in der das Stück spielt. Was ist da passiert? Es war eine Zeit gesellschaftlicher Umbruchssituationen. Das korrespondiert natürlich mit der heutigen Zeit. Es verschieben sich gesellschaftliche Konstellationen. Die alten Absprachen stimmen nicht mehr. Das andere, was ihn, soweit ich ihn bis jetzt begriffen habe, interessiert, ist diese Männerwelt, die eine bestimmte Vorstellung davon hat, wie sie sein muß und dagegen gibt es eine Frauenwelt.

Bovenschen: Aber die Lucretia Borgia funktioniert ja tadellos in der Männerwelt. Zumindest solange in dieses staatlich-militärisch und natürlich auch verbrecherisch organisierte Gewaltsystem nicht irgendetwas reinkommt, was nicht reinpaßt. Das ist der Fall, als sie plötzlich mütterliche Gefühle entwickelt. Das ist nicht vorgesehen in dieser Organisation.

Schweeger: Nehmen wir die heutige moderne Frau, die ja pseudomäßig dem Mann gleichgestellt ist. Das ›Naturprinzip Muttersein‹ ist Nebensache geworden.

Bovenschen: Der Text suggeriert ja auch, daß es sich bei der Lucretia Borgia gewissermaßen um denaturierte Weiblichkeit handelt, aufgrund der ›Blutschande‹, ihrer inzestuösen Herkunft, die immer wieder thematisiert wird. Sie erscheint sozusagen biologisch vergiftet. Der Natur entrückt. Kein Naturmonster. Ein Politikmonster. Es gibt aber in dem Stück keine Gegenfigur, die noch einmal das unbeschädigte Bild ›natürlicher‹ Weiblichkeit vorführte.

Schweeger: Es wird über sie gesprochen aber sie tritt nie auf. Es ist die Freundin von Lucretias Sohn. Das reine, schöne Mädchen. Schönheit ist in dem Stück überhaupt ein wesentliches Thema: Im Prinzip müssen die Figuren, besonders die Frauen, alle unglaublich schön sein, aber künstlich, eigentlich wie Schaufensterpuppen. Wenn
man sich die Bilder aus der Spätrenaissance und der Spätromantik anschaut, geht
es um Stilisierung.

Bovenschen: Es ist im Grunde eine Teppichrenaissance des neunzehnten Jahrhunderts.

Schweeger: Es entspricht den Nazarenern in der bildenden Kunst. Diese extrem genau, aber sehr oberflächenmäßig gezeichnete Bildstruktur der Präraffaeliten. Ähnlich dem heutigen Schönheitsideal. Es sind Konserven, die uns da präsentiert werden und nach denen wir ja letzten Endes auch funktionieren. Wir sind gar nicht mehr frei davon. Das hat auch etwas mit dem »Ich mache mir ein Bild von etwas« zu tun. Am natürlichsten sind noch die Männer.

Bovenschen: Die haben eben klare dramatische Aufträge. Eine ganz andere Frage, die ich mir beim Lesen gestellt habe: Wie ist das eigentlich sprachlich … irgendwie spürt man, daß Büchners Übersetzung eine Auftragsarbeit war.

Schweeger: Büchner hat es ruppiger gemacht. Aber das kann die deutsche Sprache auch einfach nicht, das „schöne Schwätzen“, das im Französischen wirklich eine Tugend ist. Ich habe ja den Verdacht, daß Victor Hugo das alles gar nicht so ernst genommen hat. Bei Büchner ist es ein eher moralisches Werk geworden, bei Hugo ist die Ironie der Grundton.

Bovenschen: Der Konflikt der Figur ist aber plakativ.

Schweeger: Die Lucretia Borgia ist nicht abgründig genug.

Bovenschen: Sie ist amoralisch, und sie wird auch nicht moralisch. Die Aktionen, die sie aus Liebe zu ihrem Sohn unternimmt sind genauso mörderisch wie die, die dem bloßen
Machterhalt dienen. Sie handelt mechanisch. Und sie sucht auch nicht, aus dieser Mechanik des Bösen herauszukommen.

Schweeger: Aber die Amoralität ist natürlich schon etwas, was ab Mitte des 19. Jahrhunderts in der politischen Garde Prinzip war …

Bovenschen: Natürlich! Es wird ja auch Machiavelli an einer Stelle heraufbeschworen.

Schweeger: Und Victor Hugo war natürlich eine wirklich kulturpolitische Figur und eine moralische Instanz von großer Bedeutung im Frankreich des 19. Jahrhunderts. Ich denke, er hat es ganz polemisch genommen. Polemik ist eben oberflächlich. Plakativ. Was da gerade in der Ukraine passiert ist, daß sie einen Politiker vergiften, das hat schon Borgia-Charakter. Aber leider real.

Bovenschen: Und was wir heute in den Vereinigten Staaten unter Bush haben, ist eine gefährliche Mischung aus visionärer Machtpolitik und Wirtschaftsinteressen. Zurück zum Stück: Wofür die Rache?

Schweeger: Die Rache der Frau an den Männern. Nachdem sie entdeckt haben, daß sie die böse Lucretia ist, kann sie das schöne Bild nicht aufrechterhalten, das sie dem Sohn vermitteln möchte. Das ist eine Demaskierung oder Entlarvung. Und dafür rächt sie
sich.

Bovenschen: Der Einzige, der überlebt, ist ihr grauenhafter Mann.

Schweeger: Die Konsequenz müßte aber sein, daß alle tot sind.

Bovenschen: Es ist so ein bißchen wie beim Nibelungenlied am Schluß.

Schweeger: Petras hatte als Bild einen versunkenen, kaputten Palazzo wie auf Kuba im Kopf. Ich fragte, was willst du denn damit erzählen und er meinte, das sind Systeme, die verrotten und nicht mehr funktionieren. Egal was du tust.

Bovenschen: Was tut sie, wenn man es rein logisch betrachtet: Sie versucht, ihren Sohn zu retten, mit mütterlichen Motiven, aber mit den Mitteln der herrschenden Logik. Es läuft immer auf Vernichtung hinaus.

Schweeger: Ginge man von einer größeren gesellschaftsbezogenen Dimension aus, könnte man sagen, man will ein Volk ›retten‹ und versucht es mit Mitteln, die es eigentlich vernichten.

Bovenschen: Das ist eine Figur, die mir gut gefällt, die Inversion. Bei Hans Henny Jahnn gibt es so eine Szene, in der jemand ›Gefahr‹ ruft, und dadurch entsteht die Gefahr. Das ist eine Prävention, die das Unheil erst hervorruft. Trotzdem, wenn ich das Stück lese, sehe ich einen Mangel an Differenz. Ich habe nach Bruchstellen gesucht, Stellen, an denen der Text sich widerspricht, sich gegen sich selbst aufbäumt.

Schweeger: Die Differenzlosigkeit könnte ein Prinzip sein, das schon das Ergebnis einer ganzen Entwicklung ist. Daß wir nicht mehr die Differenz denken.

Bovenschen: Ob das sehr viel schlauer wäre? Man könnte sagen, da sind zwei Fundamentalismen. Der Fundamentalismus der Macht oder die Verabsolutierung von Machtinteressen, jenseits jeder Moral auf der einen – und ein biologischer Fundamentalismus der Mütterlichkeit auf der anderen Seite. Vielleicht kann man auf diesem Weg die Figur der Lucretia verstehen, als ›Entzivilisierungsprozeß‹ gewissermaßen.

Schweeger: Ich glaube schon, daß Armin Petras all das vermutet. Er will auf die Außerkraftsetzung jeder Regel hinaus. Die normalen Beziehungen funktionieren in diesem Rechtssystem nicht mehr, sie müssen verheimlicht werden und führen automatisch zu Vernichtung. Die Möglichkeit, Mutter zu sein, menschlich zu sein, funktioniert in diesem System nicht.

Bovenschen: Vielleicht. Dieses Parzivalmotiv, das ist ja auch so ein Umkehrmotiv. Er wird in Unwissenheit gehalten, was ihn schützen soll, doch erst dadurch bekommt er einen Haufen
Schwierigkeiten.

Schweeger: Weil er naiv und dumm ist.

Bovenschen: Oder weil er rein ist? Er interessiert sich nicht für die politischen Dinge, das wird am Anfang betont. Da ist er ein Stück ignoranter als seine Freunde. Er macht nicht mit. Auch das ist kein Weg. Auch er geht zugrunde.

Schweeger: Er will nur dem Bild seiner Mutter Genüge tun, das ist eigentlich das Einzige, was ihn treibt. Eine private Geschichte – paradoxerweise auf den Spuren der Macht. Und was der Text zumindest andeutet, ist die Absage an das Feudalsystem. In der Renaissance hat der Papst seine eigene Familie überall eingesetzt. Und wenn er tot war, kam die nächste Familie und hat die vorige abgeschlachtet. Das hat sich in einem schnellen Rhythmus abgewechselt. Machiavelli, der Stadtstaat Florenz, das waren die ersten, die es anders versucht haben. Auch Kaufleute kamen an die Macht, ein merkantiles System wurde etabliert. Das war mit dem Feudalsystem nicht mehr vereinbar. Also versuchte man, republikanische Formen zu entwickeln. Das waren erste Gehversuche in Richtung einer Demokratisierung des Staates. Im 19. Jahrhundert findet eine ähnliche Ablösung statt. Das royalistische Prinzip bricht komplett in sich zusammen. Das Feudalsystem wurde zu Grabe getragen, das liegt dem Text zugrunde. Ich nehme an, daß Hugo deshalb auch die Versform verlassen hat. Der Vers, der Alexandriner, war ein höfischer. Es ist ganz klar, daß Hugo da einen Schnitt machen wollte. Mit der Populärsprache hat er das zum Ausdruck gebracht. Er hat den Stoff auf Volkes Ebene gebracht.

Bovenschen: Es wird also gezeigt, daß das alles Verbrecherbanden sind. Das Scheitern der Lucretia ist nicht tragisch. Sie hat einfach Pech. Sie hat das Pech, in diesem Verbechersystem, in dem sie hervorragend funktioniert hat, plötzlich irgendwelche Mutterinstinkte in sich zu entdecken. Sie scheitert an dem Versuch, innerhalb der ›Verbrechenslogik der Macht‹ ihre neuen Interessen zu verfolgen. Weil die Interessen nicht kompatibel zur Logik der Macht sind. Wobei die Methoden und Konsequenzen ihres Handelns nicht quer zu diesem System stehen. Sie operiert nicht anders als vorher. Sie heuchelt, um ihren Sohn freizubekommen. Interessant ist, daß ihr Mann das durchschaut. Und er schlägt sie mit ihren eigenen Waffen. Er sagt: »Du hast mir das Versprechen abgenommen.« – »Seit wann halten wir denn Versprechen?« antwortet sie.

Schweeger: Aber sie verneint ihr eigenes Ich. Sie läßt es nicht vorkommen.

Bovenschen: Hat sie ein Ich? Gibt es das, das eigene Ich?

Schweeger: Sie sucht es im Muttersein.

Bovenschen: Das Muttersein korrespondiert wohl mit dem Herzen, das sie in einen Gegensatz zu ihrem Charakter setzt. Der Charakter ist ihr Image. Es ist ihr völlig äußerlich. Es ist nur eine Frage der Außendarstellung. Sie kann ihn beliebig wechseln, was sie ja auch tut, als sie ihr Image auf Tugend zu trimmen sucht. Sie hat also gerade das nicht: ein ›Charakter-lch‹. Sie hat allerdings ein Problem, aber es ist, wie ich glaube, kein Identitätsproblem im Sinne moderner Psychologie. Ihr Problem ist, daß sie, um die Anerkennung ihres Sohnes zu gewinnen, ihr Image, ihren ›Charakter‹ wechseln muß, daß sich aber dieses, ihr neues Erscheinungsbild, nicht folgenlos in ihr altes Machtgefüge integrieren läßt. Die Disfunktionalität ihres Imagewechsels
schwächt sie und läßt sie zugrunde gehen, nicht ein innerer Konflikt.

/ Silvia Bovenschen
geboren 1946, Literaturwissenschaftlerin, lehrte Deutsche Literatur an der Johann Wolfgang Goethe-Universität in Frankfurt am Main, lebt in Berlin. Zahlreiche Veröffentlichungen u. a. zur Feministischen Literaturwissenschaft. Essays, Aufsätze und Streitschriften zur Literatur, zur Freundschaft, zur Pornographie, zum Unterschied der Geschlechter, zu Körper und Mode, zu Kultur und Politik u.v.m. „Die imaginierte Weiblichkeit – Exemplarische Untersuchungen zu kulturgeschichtlichen und literarischen Präsentationsformen des Weiblichen“ erschien in der edition suhrkamp erstmals 1979.