¯Zurück
 
Spielplan


Termine Glas Haus:

22. Oktober 2006
12. November 2006
20. Mai 2007
10. Juni 2007

Weitere Infos

Hauptartikel Frankfurter Dialoge: Geistige Armut - Kulturelle Amnesie />
Annett Gröschner />
Elisabeth Schweeger im Gespräch mit Wolfgang Engler und Matthis von Hartz
Frank Sieren />
Franz Schultheis />
Gret Haller />
Jan Roß />
Reinhart Blomert />
Robert Misik />
Stefan Reinecke />
Wolfgang Engler />

Weiterführende Links:

Publikationen des schauspielfrankfurt />

Frankfurter Dialoge: Geistige Armut - Kulturelle Amnesie

Elisabeth Schweeger im Gespräch mit Wolfgang Engler und Matthis von Hartz


Elisabeth Schweeger: Wir haben diese Spielzeit unter das Motto »Selig sind die Armen im Geiste – Wo bleibt das Himmelreich? « gestellt. Ausgehend davon würde mich interessieren, welche Auswirkung die geistige Armut oder, wie wir es genannt haben, die »kulturelle Amnesie« auf den Zustand einer Gesellschaft hat. Müssen sich kulturelle Institutionen nicht dazu bekennen, daß sie eine gesellschaftspolitische Funktion haben, also Verantwortung für die gesellschaftliche Weiterentwicklung? Aber worauf gründet sich das denn noch? Wenn man z. B. von einem vermeintlichen Fachkundigen angerufen wird, der einen fragt: »Was sind die Bakchen?« – da wundert man sich doch. Die Frage ist nur, nutzt es zu jammern und über den Verlust an kultureller oder historischer Bildung zu klagen oder sollte man unabhängig davon schauen, was wir in dem Zustand, in dem wir jetzt sind, Positives erreichen können und wie es weitergehen könnte. Was meinen Sie, Herr Engler? Sie bilden Schauspielstudenten aus.

Wolfgang Engler: Es gibt einen Abbruch, der ziemlich offenkundig ist, ein Verblassen der kulturellen Selbstverständlichkeiten. Dasist schon so. Selbst jene unter den heute Zwanzigjährigen, die sich für einen kulturellen Beruf wie den des Schauspielers entschieden haben, kommen geistig vergleichsweise »nackt« daher, das muß man schon so sagen. Das liegt möglicherweise auch daran, daß es ihnen an prägenden Erfahrungen, an biographischen Brüchen fehlt, die sie zur Auseinandersetzung mit der Vergangenheit nötigen.

Schweeger: Warum wählen sie dann einen künstlerischen Beruf? Was ist ihr Anliegen? Nur Glanz und Gloria?

Engler: Das glaube ich nicht. Gerade wenn man an diese Schule (die Hochschule für Schauspielkunst ›Ernst Busch‹ Berlin – d. Red.) kommt, geht man nicht davon aus, daß man hier zum Star wird, auch wenn sie hin und wieder solche Leute hervorbringt. Man kommt hierher, um sich zu professionalisieren, in einem stärkeren Maße als früher, möglichst gut und perfekt ausgebildet zu werden. Auch bei der Wahl der Universität wird eher danach geschaut, was es für die Professionalisierung bedeutet; man wählt einen Ort nicht wegen seines kulturellen Backgrounds oder weil er aufgeladen ist mit dem, was da mal war. Das ist eine abgeklapperte Romantik, die kaum noch mitschwingt.

Matthias von Hartz: Man sucht eher eine Dienstleistung als einen kulturellen Ort?

Engler: Man sucht sich seinen Ausbildungsort deswegen aus, um unter dem Aspekt der Professionalisierung einen Vorteil anderen gegenüber zu haben, so wie man auch versucht, drei oder vier Sprachen zu sprechen oder ein Doppeldiplom zu haben. Das Dumme ist nur, daß die anderen das auch machen. Der Vorteil entschwindet und es entsteht eine erbitterte Konkurrenzsituation. von Hartz: Nochmal zurück zu den kulturellen Selbstverständlichkeiten: Sie sagen, die Studenten kommen zumeist ohne diese, wollen sie aber auch gar nicht bekommen. Was würde denn passieren, wenn man diese Erwartung an die Professionalisierung einstweilen verweigern und sagen würde: Das erste Jahr vermitteln wir erstmal kulturelles Basiswissen?

Engler: Ich glaube, beim gegenwärtigen Stand der Dinge würden sich mehr Lehrende als Studierende dazu bereit zeigen. Der Versuch einer Reform an der Schauspielschule ist letztlich, so kann man sagen, am Widerspruch der Studierenden gescheitert. Keine Experimente, laßt es so, wie es ist; das ist das Einzigartige dieser Schule, daß sie eine Art Jesuitenseminar auf künstlerischem Gebiet ist. Bitte kein Leben einstweilen, bitte eine strenge, radikale Verschulung, die uns an unsere Leistungsgrenze führt!

Schweeger: Welches Verständnis vom Beruf des Schauspielers oder des Regisseurs steckt da dahinter? Wie kann man als Künstler über Leben verhandeln, wenn man keine Ahnung vom Leben hat? Das empfi nde ich als großen Widerspruch.

Engler: Ein absoluter Widerspruch. Das zwanzigste Jahrhundert ist reich an Biographien von Künstlern, die in existentielle Konfl ikte gestellt waren, so daß sie nicht umhin kamen, zum Leben Stellung zu nehmen. Auch der Namensgeber dieser Schule steht mit seiner Biographie dafür. Und dann diskutiert man das mit den Studenten, und sie stellen plötzlich fest: Was stelle ich denn um Himmels willen auf der Bühne dar, wenn ich kein eigenes Leben habe, nicht auf eigene Erfahrungen zurückgreifen kann? Mitte der neunziger Jahre war das noch anders, da gab es hier an der Schule noch Jahrgänge, in denen die Studierenden gesagt haben: Da ist die Schule, die ist ganz o. k., die ist nicht schlecht, aber eigentlich müssen wir uns unser Studium selber organisieren, wir müssen neben dem, was wir geboten kriegen, noch ein eigenes Leben und selbstbestimmte künstlerische Prozesse führen. Die kamen biographisch noch woanders her, die haben noch eine andere Politisierung erfahren als sie sechzehn, siebzehn waren, Ende der achtziger, Anfang der neunziger Jahre. Und jetzt wächst man, glaube ich, in einer eher fraglosen bürgerlichen Kontinuität auf, aus dem Elternhaus in die Schauspielschule hinein, recht unspektakulär. Man merkt, vieles um einen herum bricht weg, aber diese Insel gibt es noch, gut ausgestattet, wie auch die Theater noch solche Inseln sind.

von Hartz: Das ist das, was man überall rundherum erlebt, warum sollte es ausgerechnet in der Universität anders sein. Wenn Sie, Frau Schweeger, vorhin nach dem Positiven gefragt haben, das stimmt natürlich zuerst einmal pessimistisch, wenn der Ort, von dem man denkt, der könnte noch ein Freiraum sein und da könnte gegengesteuert werden, eben die universitäre Bildung, genauso stromlinienförmig begradigt ist wie andere Bereiche.

Schweeger: Es ist dahin gekommen, daß alle Ausbildungsinstitute, vor allem die Universitäten, ich weiß nicht, wie es bei den Schauspielschulen ist, verpfl ichtet worden sind, sich zu ökonomisieren, d. h. unter anderem durch die Akquirierung von Drittmitteln den Lehrplan abzusichern. Ab da unterliegt man natürlich einem gewissen Erfolgs- bzw. Ergebniszwang. Es geht nicht mehr darum, auszuloten, zu bilden, den Geist zu erweitern, sondern zielorientiert an ein Ende zu kommen. Und so sind es reine Dienstleistungsunternehmen geworden.

von Hartz: Das heißt, dann bleibt als unsere letzte Hoffnung die Schule? Wenn wir auf eine größere Form von Umdenkungsprozeß warten? Wenn nicht, dann liegt die Hoffnung im Kindergarten, wenn überhaupt noch irgendwo.

Engler: Wahrscheinlich muß tatsächlich schon viel früher angesetzt werden als in den Schulen. In Berlin hat der Kultursenator die selektive Nutzung hochkultureller Institutionen zu zerschlagen versucht durch ein Drei-Euro-Kulturticket. Das Fazit war enorm ernüchternd. Deswegen glaube ich, daß solche Versuche, den Zugang zur Kunst für alle zu erleichtern, scheitern müssen, denn da spielen ja viele Momente der kulturellen Vererbung hinein.

Schweeger: Aber kann der Staat auffangen, was die Elternhäuser nicht leisten? Oder müssen sich diese Überlegungen, letztendlich utopische Überlegungen, ganz woanders einstellen? Denn wenn auch in den Ausbildungssystemen Refl exion nicht mehr angesagt ist, wo können die Menschen dann überhaupt noch die kritischen Fähigkeiten erwerben, die im Grunde genommen der Ursprung von Kreativität sind? : Das ist ein Dilemma. Abgesehen von glücklichen Fügungen – gute Startbedingungen, funktionierende Elternhäuser, interessante Milieus – werden diese Fähigkeiten auch durch die gesellschaftlichen Bildungsträger kaum noch vermittelt.

Schweeger: Die Gefahr ist, daß uns mit diesen Fähigkeiten auch die Phantasie abhanden kommt, um uns in einer immer komplexeren Welt zu orientieren und alternative Antworten auf globale Probleme zu finden. Innerhalb von vierzig Jahren hat sich z. B. die Weltbevölkerung verdoppelt. 1960 waren es noch dreieinhalb Milliarden, jetzt sind es fast sieben. Was würde passieren, wenn die gesamte globale Situation in ihrer Vernetzung zusammenbräche? Es gäbe ein paar kleine Eliten, die versuchten, alles zu steuern, und es gäbe eine enorm breite Masse von vielleicht sechs Milliarden Leuten, die zu überleben suchten. Wie könnten Überlebensformen aussehen, welche gesellschaftlichen Nischen oder Zellen könnten da entstehen?

von Hartz: Die Beispiele gibt es ja, wenn man sich z. B. Argentinien vor fünf Jahren anschaut.

Schweeger: Wie lange dauerte das? Gerade mal zwei Jahre.

von Hartz: Wenn man die Mechanismen betrachtet, funktioniert das ja erst einmal. Ein System bricht zusammen. Dann passiert etwas, das wir uns aus irgendeiner linken Perspektive heraus wünschen: Selbstorganisation. Es findet auf einem bestimmten Niveau Selbstorganisation statt, Tauschringe, Versammlungen, in denen lokalpolitische Entscheidungen getroffen werden. Das geht genau so lange, bis das System wieder stark genug ist, um Macht, Entscheidungen, letzten Endes Finanzkraft zu zentralisieren. Und dann geht es genau so weiter wie vorher; alle sind froh, daß sich wieder einer kümmert um die gesellschaftlichen Belange.

Engler: Ja, aber offenbar genießen es die Menschen dann auch wieder, dieses soziale Dauerengagement zugunsten eines Getragenwerdens von Institutionen und in Regelmechanismen aufgeben zu können. Auch wieder privat sein zu dürfen. Entspannen zu dürfen. Ein Mensch sein zu dürfen im Sinne des nichtpolitischen Lebens. Und insofern denke ich nicht, daß wir derzeit etwas in diesen Beispielen fi nden, das für uns Europäer wegweisend oder gar neu sein könnte. Noch funktionieren die Systempuffer und fangen auch die Verlierer auf. Das muß nicht so bleiben, und vieles spricht dafür, daß wir rauheren Zeiten entgegengehen, die uns auf uns selbst, auf kleine soziale Netzwerke zurückwerfen.

Schweeger: Ich glaube nicht, daß wir nach etwas Neuem suchen müssen, sondern eher danach, welche Gemeinschaftsformen man in dem vorhandenen System entwickeln kann, von dem man ahnt oder weiß, daß es in seiner jetzigen Form keinen Bestand mehr hat.

Engler: Die Verherrlichung oder Vergottung von Arbeit, diese vielleicht letzte Bastion des Religiösen in unserer Gesellschaft, daß Arbeit das schlechthin Gute, Erfüllende, den Menschen Defi nierende sei, das ist natürlich ein ungeheuer stabilisierendes Moment in einer brüchig werdenden Gesellschaft. Weil es jeden einzelnen in eine bestimmte Richtung dirigiert, die total systemkonform ist: die Einbettung in den Markt, die Opferung auch privater Beziehungen zugunsten der Verfügbarkeit, und zwar nicht als ein äußeres Diktat über mich, sondern als etwas, das ich als Forderung an mich selbst stelle. Wenn das hinfällig wird, ist das ganze System gefährdet, und ich glaube, es ist deswegen auch kein Zufall, daß diese Bastion so verteidigt wird.

Schweeger: Das ist doch genau die Sollbruchstelle. Wenn droht, daß keine Arbeitsplätze mehr zu vergeben sind, jedenfalls nicht mehr für alle, dann droht auch der letzte Ort der Identifi kation oder der Sinngebung, warum man da ist, worüber man sich definiert, wegzufallen.

Engler: Der Witz ist, daß auch die Linke, wenn man sie überhaupt noch so nennen darf, die Linke im Parteienspektrum, dies mit denselben Zähnen und Klauen verteidigt wie die politische Rechte. Da gibt es keine Unterschiede, das ist wie bei den Gewerkschaften, die darin wieder den Unternehmerverbänden gleichen, die darin wieder allen Parteien ähnlich sind. Das all diesen Organisationen und Parteien Gemeinsame ist das bedingungslose Festklammern an Erwerbsarbeit als einzigem gesellschaftlichem Platzanweiser. Nur wer Erwerbsarbeit leistet gilt in vollem Umfang als Person, hat am gesellschaftlichen Leben teil. Wenn man sagen oder zugeben würde, daß auskömmliche Arbeit für alle nicht zur Verfügung steht, müßte man nach anderen Lebensweisen, alternativen Formen des Zusammenlebens und natürlich auch nach anderen Formen der Verteilung des Reichtums suchen. Aber dieses Umdenken wird politisch um jeden Preis vermieden.

Schweeger: Gehen wir doch einmal von dieser Vorstellung aus: Es gibt keine Arbeit mehr, es gibt keine Möglichkeit mehr, sich daran zu orientieren, sich zu defi nieren, sich gesellschaftlich zu positionieren usw. Worauf könnten sich die Menschen dann noch positiv beziehen?

von Hartz: Was wäre dann das Nächste, worauf man zurückgriffe? Doch wahrscheinlich die Familie? Ich meine die Familie als Struktur.

Engler: Ich glaube, historisch gesehen sind es stets die Familienverbände gewesen, die das Überleben des einzelnen gesichert haben. Das ist bei den Spaniern und den Portugiesen bis heute der Fall. Ein solcher Rückbezug bringt natürlich auch neue Formen der Abhängigkeit mit sich.

Schweeger: Das ist dann die Zellenbildung, von der ich gesprochen habe. Die Gesellschaft zerfällt wieder in kleine Zellen.

von Hartz: Ich würde eher denken, jetzt sind alle vereinzelt. Wenn es aber mit der Arbeit nicht mehr funktioniert, dann braucht man wieder eine Gruppe, ein Kollektiv. Ich denke, die derzeitige, nicht nur von konservativer Seite geführte Familiendebatte ist nur ein deutliches Signal dafür.

Schweeger: Machen wir innerhalb unseres Themas noch einen Sprung zu einem weiteren Problemfeld, dem der Medien. Sind nicht gerade auch die durch Medien erzeugten künstlichen Bilder und Realitäten, wie Niklas Luhmann es bereits analysierte, ein Grund dafür, warum es so kompliziert geworden ist, überhaupt neue Modelle zu entwikkeln?

von Hartz: Hat man nicht auch einfach Angst davor? Man merkt, daß irgendwas mit diesem System nicht mehr so richtig funktioniert. Man hat aber keine Idee, wie das andere beschaffen sein könnte. Darum hält man lieber an dem alten fest.

Schweeger: Ja, aber wodurch entsteht das? Was hindert uns daran, in Alternativen zum Gegebenen zu denken? Wird nicht zuletzt durch die Medialisierung der Welt ein Nicht-Raum geschaffen, der weder durch Geld, noch physisch oder anders faßbar, einfach hybrid ist?

Engler: Es ist sehr schwer, sich dem zu entziehen oder dem etwas entgegenzustellen, weil diese Medien den Zugang zur Öffentlichkeit monopolisiert haben und jeden Versuch, Allianzen zu bilden, mit dem Ausschluß aus der medialen Wahrnehmung bestrafen. Wer aufmuckt, kommt nicht mehr vor. Außer persönlichen Anstandsregeln und einer gewissen Dezenz im Umgang mit den Massenmedien wüßte ich keine wirksame Gegenstrategie zu benennen. Natürlich kann und muß man, wenn man Leute für eine Institution wie das Theater ausbildet, zumindest versuchen, etwas gegen die Professionalisierungsstrategie der einzelnen zu unternehmen, ihnen sagen, verbündet Euch, geht nicht als Einzelkämpfer an die Häuser, sondern als Gruppe, die die Institution aufmischt. Das ist das Maximum an organisiertem Widerstand, beim jetzigen Stand der Dinge. Daß viele von solchen kleinen, widerspenstigen Zellen entstehen. Aber ich bin da eher skeptisch, nicht zuletzt, wenn ich an meine eigene Verführbarkeit durch mediale Resonanz denke.

Schweeger: Ich glaube trotzdem, daß in dieser »Zellenbildung« eine gewisse Chance liegt, um dem allgemeinen, durch die Medien verursachten Konformismus bzw. Mangel an Differenzierungsfähigkeit etwas entgegenzusetzen. Die Handke-Debatte war für mich exemplarisch dafür. Ich wurde zu dem Fall mehrmals interviewt. Alle wollten eine klare Aussage, pro oder contra. Auch das Fernsehen war dabei. Ich habe versucht zu differenzieren. Dann wurde ich angerufen und es hieß, es ist nicht fernsehtauglich. Wer wirklich versucht, differenziert ein Problem darzulegen, kommt nicht zu Wort, es wird ihm kein Forum gegeben, und deswegen gibt es auch keine Adressaten mehr, die man differenziert informieren könnte. Diese mediale Kraft hat uns nicht nur in eine Einbahnstraße, sondern in eine absolute Uniformität hineingepreßt, die es uns im Grunde nicht mehr möglich macht, neue Modelle oder Utopien zu denken, geschweige denn zu entwickeln.

Engler: Das Theater ist einer der wenigen Orte, wo wir das noch können, wo wir über zentrale gesellschaftliche Angelegenheiten verhandeln und alternative Entwürfe durchspielen können. Viele Theater haben darüber hinaus in den letzten zehn, fünfzehn Jahren diskursive Formen an sich gebunden, die früher im akademischen Raum stattgefunden haben. Viele Debatten finden nicht mehr in den Hörsälen, sondern in den Theatern statt, hier treten Philosophen und Soziologen auf. Das habe ich selber vier Jahre an der Schaubühne mit Mathias Greffrath gemacht, die Menschen haben sich die Klinke in die Hand gegeben. Ähnliches findet ja auch bei Ihnen am schauspielfrankfurt statt.

Schweeger: Ja, die Bildungseinrichtungen haben da etwas preisgegeben, das zu übernehmen wir als unsere Aufgabe betrachten.

Engler: Ich sehe mit großem Vergnügen, daß sich das auch an kleineren Stadttheatern behauptet. Ein Theater kann, wenn es mit seiner Umwelt kommunizieren will, nicht darauf verzichten.

Schweeger: Man sollte darüber hinaus aber auch all die anderen Orte, an denen ein öffentlicher Diskurs noch möglich ist, stärker miteinander verknüpfen. Gesunde Konkurrenz ja, aber im Sinne eines gemeinsamen Terrains, in dem kritische Refl exion in unterschiedlichster Weise stattfi nden kann. Viele solcher Orte sind bereits verschwunden, jetzt haben andere aus einer Not heraus deren Funktion übernommen. Ich bin da aber auch eher hoffnungsvoll als negativ gestimmt. Man muß nur darauf achten, daß die Medialität uns diese Orte nicht auch noch wegrationalisiert.

von Hartz: Ich kenne viele Leute, die einen Ort für kritische Refl exion schätzen und nicht auf die Idee kommen würden, daß ihre Themen auch im Theater (und damit meine ich eher den Ort als das Medium) verhandelt werden könnten. Ich rede dabei nicht von Randgruppen, die unserem bürgerlichen Kultursystem relativ fern stehen, ich spreche von Leuten, die Filme machen, die Musik machen, die in einem anderen Kulturfeld tätig sind. Für die braucht es Brücken zu diesem öffentlichen Ort Theater. Das Theater befi ndet sich immer noch in einer gewissen Isolation mit einem bürgerlichen Publikum. Diese Isolation gilt es immer wieder neu zu durchbrechen. Indem man anfängt, den Rand intensiver zu beackern, bekommt der Rand auch eine größere gesellschaftliche Aufmerksamkeit.

Schweeger: Daran muß man arbeiten, das wäre ein positiver Schluß. Es gibt doch noch eine Utopie, und wenn sie noch so klein ist. Sie beginnt an den Rändern.

Wolfgang Engler ist Soziologe und Rektor der Hochschule für Schauspielkunst ›Ernst Busch‹ in Berlin. Er wird in dieser Spielzeit die Frankfurter Dialoge kuratieren.

Matthias von Hartz ist freier Regisseur und seit dieser Spielzeit gemeinsam mit Tom Stromberg Leiter des Festivals Impulse sowie des Sommertheaterfestivals der Kampnagelfabrik Hamburg. Am schauspielfrankfurt hat er die künstlerischen Kongresse ›Schöner wär’s wenn’s schöner wär‹ zum Thema Widerstand (2005) und ›I will survive – Arche 06: Theorie und Kunst zur Rettung der Welt‹ kuratiert. Im Frühsommer 2007 leitet er am schauspielfrankfurt einen Kongreß zum Thema Heimat, ›feel@home‹.