¯Zurück
 
Spielplan


Termine Kleines Haus:

12. / 25. / 27. April 2002
15. / 24. / 30. Mai 2002
08. / 15. / 16. / 26. Juni 2002
26. / 31. Oktober 2002
03. / 27. / 30. November 2002
23. Januar 2003
15. Februar 2003
14. März 2003

Weiterführende Links:

Artaud - Unkultur />
Artaud-Bildergalerie />

Downloads:

Die Cenci [pdf] />

Zuschauer-Rezensionen lesen />

Die Cenci

Antonin Artaud
Tragödie in vier Akten und zehn Bildern nach Shelley und Stendhal
Aus dem Französischen von Bernd Mattheus

In Zusammenarbeit mit dem Institut Français für Frankfurt und Hessen


"Ich nehme das Verbrechen auf mich aber ich bestreite die Schuld."
“Gotscheff hat das Verhältnis von Vater und Tochter deutlich so inszeniert, daß kein Täter-Opfer-Verhältnis auszumachen ist. Er entwickelt einen gesamtfamiliären Körpergestus und steuert ein Theater an, das durch Fremdheit der Körpersprache erschüttern will.“ (Theater heute)

Regie: Dimiter Gotscheff; Dramaturgie: Brigitte Fürle


Antonin Artaud
Die Cenci
Tragödie in vier Akten und zehn Bildern nach Shelley und Stendhal / Aus dem Französischen von Bernd Mattheus / Kleines Haus / Premiere: 12. April
Regie: Dimiter Gotscheff / Bühne / Kostüme: Florian Parbs / Soundarchitektur: Franz Pomassl / Dramaturgie: Brigitte Fürle
Mit: Uwe Bertram, Daniel Christensen, Friederike Kammer, Wolfram Koch, Jan Neumann, Jörg Pose, Giuseppe Rizzo, Lena Streiff
Chor: Alexander Bevc, Uwe-Richard Czerwinski, Nana Domena, Anja Dorn, Hélène Ekwe, Martin Georgi, Änne Hagemeister, Moritz Herz, Sandra Lühr, Janine Maschinsky, Evelin Misch, Hendrik Muijsson, Juliane Nawo, Jan Reichert, Michael Schmitt


Rom im 16. Jahrhundert. In seinem Palazzo herrscht der Adelige Francesco Cenci als Tyrann über Familie, Dienerschaft und alles, was ihn umgibt. Cenci bezeichnet sich als "der reichste Mann Roms, der Hauptstadt der Welt" - ein gewalttätiger Repräsentant eines Feudalsystems, das sich mit der Macht der Kirche arrangiert hat. Gottesgleich erhebt er sich über die Familie, die er geschaffen hat, weshalb er sich auch das Recht nimmt, sie zu zerstören. Beatrice, das jüngste seiner Kinder, wird sexuelles Opfer der väterlichen Autorität. Das Mädchen rächt sich mit einem Mordkomplott an Cenci und wird in einem Inquisitionsprozeß zum Tode verurteilt.

Die Geschichte der Beatrice Cenci wurde von Stendhal (L"Affaire Cenci), von Shelley (The Cenci), von Antonin Artaud (Les Cenci nach Shelley und Stendhal - Artaud selbst inszenierte sein Stück und spielte die Rolle des F. Cenci) sowie von Alberto Moravia (Beatrice Cenci) als Theaterstück bearbeitet. Artaud setzt (im Gegensatz zu Moravia) den Tyrannen Francesco Cenci in den Mittelpunkt der Handlung - ein Tyrann, den die selbsternannte Souveränität ermüdet und langweilt und der Gott zum Komplizen seines Verbrechens macht: "Warum hat er mich zum Vater eines Geschöpfs gemacht, das mich ganz dazu auffordert, es zu begehren?"


Ich habe bis zu meinem siebenundzwanzigsten Jahr mit dem dunklen Hass des Vaters, meines Vaters als Einzelperson gelebt. Bis zu dem Tage, wo ich erlebt habe, wie er starb. Da hat diese unmenschliche Härte, mit der er mich unterdrückte und die ich ihm vorwarf, nachgelassen, aus diesem Leichnam ist ein anderes Wesen hervorgegangen. Und zum ersten Mal in meinem Leben hat mir dieser Vater die Arme entgegengestreckt.
Antonin Artaud

Ich, Antonin Artaud, bin mein Sohn, mein Vater, meine Mutter und ich.

Was ich allen verständlich machen will, ist, daß ich den gesellschaftlichen Aberglauben an die Familie attackiere, ohne jedoch zu verlangen, daß man gegen diese oder jene Einzelperson die Waffen erhebt. Das gleiche gilt für die Ordnung, das gleiche gilt für das Recht.
Antonin Artaud, 10. Februar 1935 anläßlich einer Lesung von Die Cenci

Artaud hat Die Cenci 1935 in enger Anlehnung an die literarischen Vorlagen von Shelley und Stendhal geschrieben, am 7. Mai desselben Jahres im Pariser Théâtre des Folies-Wagram (anstelle eines Tempels) uraufgeführt und dabei selbst die Hauptrolle, den Graf Francesco Cenci, gespielt. Artauds innovative Regieideen hatten allerdings wenig Erfolg beim Publikum, nach 17 Vorstellungen wurde das Stück abgesetzt - Artaud reiste, vom Theater endgültig enttäuscht, nach Mexiko. Die Cenci basiert auf einer wahren Geschichte, ein grausames Familiendrama, das sich in Rom Ende des 16. JH zugetragen hatte. Graf Cenci tyrannisiert seine Familie und mißbraucht die jüngste seiner Töchter, Beatrice, solange bis sie seinen Mord beschließt und durchführen läßt. Das Komplott wird entdeckt, alle geraten unter die Folter der Inquisition. Der Papst, Clemens VIII, hatte bisher mit den Verbrechen Cencis, die dieser immer wieder mit Landbesitz „gesühnt“ hatte, gute Geschäfte gemacht. Die Prozeßführung der päpstliche Justiz gilt weiterhin diesen Interessen. Mit der Hinrichtung der gesamten Familie - die Enthauptung Beatrices am 11. September 1599 nahe der Engelsburg führt beinahe zu einem Volksaufstand – gehen die reichen Besitzungen der Cenci endgültig in das Eigentum der Kirche über.


Stendhal
Novellen
Aus: DIE CENCI


Hier folgt nun die Übersetzung des zeitgenössischen Berichts; sie ist in römischen Italienisch verfaßt und wurde am 14. September 1599 geschrieben.
Wahrheitsgetreuer Bericht
vom Tode des Giacomo und der Beatrice Cenci, sowie ihrer Stiefmutter, Lucrezia Petroni Cenci, die am vergangenen Sonnabend, dem 11 .September 1599, unter der Regierung unseres Heiligen Vaters, des Papstes Clemens VIII., Aldobrandini, für das Verbrechen des Verwandtenmordes hingerichtet wurden
Das abscheuliche Leben, das Francesco Cenci - in Rom geboren und einer unserer reichsten Mitbürger — stets führte, hat ihn schließlich ins Verderben gestürzt. In einen vorzeitigen Tod hat er seine Söhne, kräftige und tapfere Jünglinge, mithineingezogen, ebenso seine Tochter Beatrice, die (heute vor vier Tagen) im Alter von kaum sechzehn Jahren zum Schafott geführt wurde und doch schon als eine der Schönsten des Kirchenstaates und ganz Italiens galt. ...
Damit ihr aber auch eine Erinnerung erhalten bleibe an das unvergleichliche Unglück und an die erstaunliche Kraft, mit der diese wahrhaft römische Seele es zu überwinden verstand, habe ich mich entschlossen, alles das aufzuschreiben was ich über die Umstände, die zu ihrem Tode führten, gehört habe, und das, was ich am Tage ihres ruhmreichen Unterganges selbst sah.
Die Personen, die mir Auskunft erteilten, waren so gestellt, daß sie um die geheimsten Umstände wissen mußten, die selbst heute in Rom noch unbekannt sind, obwohl man seit sechs Wochen von nichts anderem als dem Prozeß der Cenci spricht. Ich schreibe mit einer gewissen Freimütigkeit, da ich sicher bin, meinen historischen Bericht in vertrauenswürdigen Archiven niederlegen zu können, aus denen man ihn gewiß erst nach meinem Tode hervorholen wird. Mein einziger Kummer ist, daß ich der Wahrheit zuliebe gegen die Unschuld der armen Beatrice Cenci sprechen muß, die von allen, die sie kannten, ebenso verehrt und geachtet wurde, wie man ihren schrecklichen Vater haßte und verfluchte.
Dieser Mann, der, was man nicht leugnen kann, vom Himmel mit erstaunlichem Scharfsinn und wunderlichen Neigungen begabt wurde, war der Sohn jenes Monsignore Cenci, der unter Pius V. (Ghislieri) zum Schatzmeister (Finanzminister) erhoben wurde. Dieser Papst, der bekanntlich ganz und gar mit seinem gerechten Haß gegen die Ketzerei und mit der Wiedereinsetzung seiner bewundernswerten Inquisition beschäftigt war, empfand nur Verachtung für die weltliche Verwaltung seines Staates. So konnte Monsignore Cenci, der vor 1572 einige Jahre lang Schatzmeister war, Mittel und Wege finden, jenem Scheusal, das sein Sohn und Beatrices Vater war, ein Nettoeinkommen von hundertsechzigtausend Piastern zu hinterlassen.
Außer diesem großen Vermögen besaß Francesco Cenci einen Ruf von Mut und Klugheit, dem in seiner Jugend kein anderer Römer gleichkam. Dieser Ruf brachte ihn am Hofe des Papstes und beim ganzen Volke um so mehr in Ansehen, als die Schandtaten, die man ihm zuzuschreiben begann, nur von der Art waren, die die Welt leicht verzeiht. ...
In den anderen Städten Italiens weiß man wahrscheinlich nicht, daß Schicksal und Lebensart in Rom je nach dem Charakter des regierenden Papstes wechseln. So war unter dem gutmütigen Papst Gregor XIII. (Buoncompagni) dreizehn Jahre lang in Rom alles erlaubt; wer wollte, ließ seinen Feind ermorden und wurde keineswegs belangt, wenn er sich nur unauffällig benahm. Diesem Übermaß an Nachsicht folgte ein Übermaß an Strenge während der fünf Jahre, in denen der große Sixtus V. regierte, von dem es wie von Kaiser Augustus heißt, er hätte entweder nie kommen oder immer bleiben sollen. Damals wurden Unglückliche für Mordtaten oder Vergiftungen hingerichtet, die seit zehn Jahren vergessen waren, die sie aber unglückseligerweise dem Kardinal Montalto, dem späteren Sixtus V., gebeichtet hatten.
Über Francesco Cenci begann man hauptsächlich unter Gregor XIII. häufiger zu reden; er hatte, wie es einem so angesehenen Edelmanne zukam, eine sehr reiche Frau geheiratet; sie starb, nachdem sie ihm sieben Kinder geschenkt hatte. Bald nach ihrem Tode heiratete er in zweiter Ehe Lucrezia Petroni. Sie war von seltener Schönheit und vor allem berühmt durch ihre blendend weiße Hautfarbe;
allerdings war sie ein wenig zu füllig, was bei unseren Römerinnen allgemein ein Schönheitsfehler ist. Von Lucrezia hatte er keine Kinder.
Das geringste Laster, das man Francesco Cenci vorwerfen konnte, war der Hang zu einer schändlichen Leidenschaft; das größte war sein Unglaube. In seinem ganzen Leben sah man ihn nie eine Kirche betreten. Wegen seiner schändlichen Leidenschaften wurde er dreimal ins Gefängnis geworfen, und um sich zu befreien, bestach er Günstlinge der zwölf Päpste, unter denen er nacheinander lebte, mit zweihunderttausend Piastern. (200000 Piaster entsprechen ungefähr fünf Millionen im Jahre 1837.)
Ich selbst sah Francesco Cenci zum ersten Male, als sein Haar schon zu ergrauen begann; es war unter dem Regime des Papstes Buoncompagni, als einem Verwegenen alles gestattet war. Er war ein Mann von fast fünf Fuß vier Zoll, sehr gut gebaut, wenn auch etwas zu mager; er galt als außerordentlich stark, doch vielleicht ließ er dieses Gerücht auch selbst verbreiten; er hatte große und ausdrucksvolle Augen, nur fiel das obere Augenlid etwas zu tief herunter; seine weit vorspringende Nase war groß, die Lippen waren schmal, und sein Gesicht zeigte stets ein liebenswürdiges Lächeln. Dieses Lächeln aber wurde furchtbar, wenn er den Blick auf seine Feinde heftete; ... Vor allem machte es ihm großes Vergnügen, seine Feinde herauszufordern. Auf allen Straßen des Kirchenstaates war er wohlbekannt; im Bezahlen war er großzügig, aber er war auch imstande, zwei oder drei Monate nach einer ihm zugefügten Beleidigung einen seiner Meuchelmörder auszusenden, um den zu töten, der ihn beleidigt hatte.
Die einzige tugendhafte Handlung während seines ganzen langen Lebens war, daß er im Hofe seines weitläufigen Palastes am Tiber eine dem heiligen Thomas geweihte Kirche erbauen ließ; doch auch zu dieser edlen Tat trieb ihn nur der eigenartige Wunsch, stets die Gräber all seiner Kinder vor Augen zu haben, gegen die er schon seit ihrer zartesten Jugend, als sie ihn noch in keiner Weise gekränkt haben konnten, einen außergewöhnlichen und unnatürlichen Haß hegte.
»Dort will ich sie alle hinbringen«, sagte er oft mit bitterem Lachen zu den Arbeitern, die er beim Bau seiner Kirche beschäftigte. Seine drei ältesten Söhne, Giacomo, Cristoforo und Rocco schickte er zum Studium auf die Universität von Salamanca in Spanien. Als sie erst in dem fernen Lande waren, bereitete es ihm ein hämisches Vergnügen, ihnen keinerlei Geld zu schicken, und so sahen sich die bedauernswerten jungen Leute nach zahlreichen Briefen an ihren Vater, die alle unbeantwortet blieben, genötigt, in ihr Vaterland zurückzukehren und sich dazu kleine Geldsummen zu borgen oder sich gar den langen Weg hindurchzubetteln.
In Rom fanden sie ihren Vater ernster, strenger und habgieriger denn je, und trotz seines ungeheuren Reichtums wollte er sie weder kleiden, noch ihnen das nötige Geld zum Kauf der einfachsten Lebensmittel geben. Die Bedauernswerten mußten sich schließlich hilfesuchend an den Papst wenden, der daraufhin Francesco Cenci zwang, ihnen ein bescheidenes Kostgeld zu gewähren. Mit Hilfe dieser sehr geringfügigen Unterstützung trennten sie sich von ihm. Bald darauf wurde Francesco Cenci zum dritten und letzten Male wegen seiner infamen Liebesaffären ins Gefängnis geworfen; daraufhin baten die drei Brüder dringend um eine Audienz bei dem zur Zeit regierenden Papst und baten ihn gemeinsam, ihren Vater Francesco Cenci hinrichten zu lassen, der, wie sie sagten, ihr Haus entehrte. Clemens VIII. war an sich damit durchaus einverstanden, wollte jedoch nicht sogleich seiner ersten Eingebung folgen und den unnatürlichen Kindern ihren Wunsch erfüllen, deshalb jagte er sie mit Schimpf und Schande davon.
Wie schon erwähnt, befreite sich der Vater mit Hilfe hoher Bestechungsgelder aus der Haft. Es ist begreiflich, daß der befremdliche Schritt seiner drei ältesten Söhne den Haß, den er ohnehin gegen seine Kinder hegte, noch vermehren mußte. Er beschimpfte sie bei jeder Gelegenheit, die Großen wie die Kleinen, und seine beiden armen Töchter, die mit in seinem Palast wohnten, erhielten täglich Stockschläge.
Trotz strenger Überwachung gelang es der älteren nach vielem Bemühen, dem Papst eine Bittschriftzukommen zu lassen; sie beschwor Seine Heiligkeit, sie zu verheiraten oder sie in einem Kloster unterzubringen. Clemens VIII. hatte Mitleid mit ihrem Mißgeschick und vermählte sie mit Carlo Gabrielli, aus der vornehmsten Familie von Gubbio; und Seine Heiligkeit zwang den Vater, ihr eine beträchtliche Mitgift zu geben.
Bei diesem unvorhergesehenen Schlag geriet Francesco Cenci in ungeheuren Zorn, und um zu verhindern, daß die heranwachsende Beatrice auf den Gedanken käme, dem Beispiel ihrer Schwester zu folgen, sperrte er sie in ein Zimmer seines weitläufigen Palastes ein. Dort durfte niemand Beatrice sehen, die damals kaum vierzehn Jahre alt und doch schon von bezauberndster Schönheit war. Außerdem besaß sie Heiterkeit, Offenherzigkeit und sprühenden Geist, wie ich sie nur bei ihr wahrgenommen habe. Francesco Cenci brachte ihr selbst das Essen. Wahrscheinlich verliebte sich dieses Ungeheuer dadurch in sie oder gab wenigstens vor, in sie verliebt zu sein, um seine unglückliche Tochter um so mehr quälen zu können. Oft sprach er mit ihr von dem hinterlistigen Streich, den ihm ihre ältere Schwester gespielt hatte, und nachdem er sich durch seine eigenen Worte in Wut gebracht hatte, überhäufte er schließlich Beatrice mit Schlägen.
Unterdessen wurden sein Sohn Rocco Cenci von einem Fleischer und im folgenden Jahre Cristoforo Cenci von Paolo Corso di Massa getötet. Bei dieser Gelegenheit zeigte er seine ruchlose Gottlosigkeit, denn beim Begräbnis seiner Söhne wollte er nicht einmal einen Baiocco für Kerzen ausgeben. Als er vom Schicksal seines Sohnes Cristoforo erfuhr, rief er aus, er könne keine Freude empfinden, bevor nicht alle seine Kinder begraben seien, und wenn das letzte tot sei, wolle er zum Zeichen seines Glückes seinen Palast in Brand stecken. Ganz Rom war erschüttert über diese Äusserung, hielt aber alles für möglich bei einem Manne, der seinen ganzen Stolz darein setzte, der ganzen Welt und dem Papste zu trotzen. ...
Aber all diese Dinge genügten ihm noch keineswegs; mit Drohungen und Gewalt versuchte er, seine eigene Tochter Beatrice zu schänden, die ja bereits erwachsen und schön war; und er schämte sich nicht, sich völlig entkleidet in ihr Bett zu legen. Er ging mit ihr durch die Säle seines Palastes, wobei er vollkommen nackt war; dann schleppte er sie in das Bett seiner Frau, damit die arme Lucrezia beim Lampenschein sehen konnte, was er Beatrice antat.
Er lehrte das arme Mädchen eine schändliche Ketzerei, die ich kaum wiederzugeben wage, nämlich, daß die Kinder, die ein Vater mit seiner eigenen Tochter zeugte, zwangsläufig Heilige wären. Alle großen Heiligen, die die Kirche verehre, seien so geboren worden, das heißt, daß ihr Großvater mütterlicherseits zugleich ihr Vater war.
Wenn Beatrice seinen abscheulichen Gelüsten Widerstand leistete, überhäufte er sie mit den grausamsten Schlägen, so daß die Ärmste ein solch unglückseliges Dasein nicht mehr ertragen konnte und auf den Gedanken kam, dem Beispiel ihrer Schwester zu folgen. Sie richtete eine ausführliche Bittschrift an den Papst; aber wahrscheinlich hatte Francesco Cenci Vorsichtsmaßnahmen ergriffen; denn diese Bittschrift scheint nie in die Hände Seiner Heiligkeit gelangt zu sein; zumindest war es unmöglich, sie im Sekretariat der Memoriali aufzufinden, als Beatrices Verteidiger während ihrer Haft dieses Aktenstück dringend benötigte; es hätte doch wenigstens in gewisser Hinsicht die unerhörten Exzesse beweisen können, die im Schloß von Petrella begangen wurden. Wäre es dadurch nicht allen klar geworden, daß Beatrice Cenci in Notwehr gehandelt hatte? Außerdem war diese Bittschrift auch im Namen von Lucrezia, der Stiefmutter Beatrices, abgefaßt. Francesco Cenci erhielt Kenntnis von diesem Versuch, und man kann sich vorstellen, daß er in seinem Zorn die beiden unglücklichen Frauen noch viel schlechter behandelte.
Ihr Leben wurde völlig unerträglich, und als sie sahen, daß sie von der Gerechtigkeit des Herrschers, dessen Höflinge durch die reichen Geschenke Francescos bestochen waren, nichts zu erhoffen hatten, entschlossen sie sich, bis zum Äußersten zu gehen, das ihnen zwar den Untergang brachte, aber doch den Vorteil hatte, ihre Leiden auf dieser Welt zu beenden.
Nun muß man wissen, daß der berühmte Monsignore Guerra oft im Palazzo Cenci verkehrte; er war ein großer und überhaupt sehr schöner Mann und hatte vom Schicksal die seltene Gabe erhalten, alles, was er unternahm, mit ganz besonderem Geschick zu erledigen. Man vermutete, daß er Beatrice liebte und die Absicht hatte, das Ordenskleid abzulegen, um sie zu heiraten; aber obgleich er seine Gefühle mit außerordentlicher Sorgfalt zu verbergen verstand, war er Francesco Cenci verhaßt, der ihm eine zu enge Verbindung mit all seinen Kindern vorwarf. Wenn Monsignore Guerra erfuhr, daß Signor Cenci seinen Palast verlassen hatte, so begab er sich in die Gemächer der Damen, um einige Stunden mit ihnen zu plaudern und ihre Klagen über die unglaubliche Behandlung anzuhören, der sie beide ausgesetzt waren. Anscheinend wagte es Beatrice als erste, Monsignore Guerra den Plan, den sie geschmiedet hatten, zu unterbreiten. Im Laufe der Zeit erklärte er sich bereit, ihnen dabei zu helfen; und als ihn Beatrice wiederholt dazu drängte, willigte er schließlich ein, ihren seltsamen Plan Giacomo Cenci mitzuteilen, ohne dessen Zustimmung man nichts unternehmen konnte, da er der älteste Bruder und nach Francesco das Oberhaupt der Familie war.
Es war sehr leicht, ihn für die Verschwörung zu gewinnen; sein Vater hatte ihn über alle Maßen schlecht behandelt und ihm keinerlei Unterstützung gewährt, wodurch Giacomo, der verheiratet war und sechs Kinder hatte, sehr schwer getroffen wurde. Für die weiteren Besprechungen über die Ermordung Francesco Cencis wählte man die Wohnung des Monsignore Guerra. Die Angelegenheit wurde in aller Form behandelt, und man berücksichtigte vor allen Dingen die Zustimmung der Stiefmutter und des jungen Mädchens. Schließlich wählte man zwei Vasallen Francesco Cencis, die ihn auf den Tod haßten. Der eine von ihnen hieß Marzio; er war ein tapferer Mann, der den unglücklichen Kindern Francescos sehr ergeben war, und um ihnen etwas zuliebe zu tun, willigte, er ein, sich am Vatermorde zu beteiligen. Der zweite, Olimpio, war einst vom Fürsten Colonna zum Burgvogt der Festung Petrella im Königreich Neapel ernannt worden; aber durch seinen allmächtigen Einfluß auf den Fürsten hatte Francesco Cenci ihn dort verdrängt.
Mit diesen beiden Männern wurde nun alles verabredet; da Francesco Cenci, um dem schlechten Klima Roms zu entgehen, den kommenden Sommer in der Festung Petrella verbringen wollte, kam man auf den Gedanken, ein Dutzend neapolitanischer Banditen zusammenzurufen. Olimpio übernahm es, sie anzuwerben. Man beschloß, sie in den benachbarten Wäldern von Petrella zu verbergen und sie zu benachrichtigen, wenn Francesco Cenci sich auf den Weg machte; dann sollten sie ihn unterwegs entführen und seiner Familie mitteilen, daß sie ihn gegen ein hohes Lösegeld freigeben würden. Daraufhin wären die Kinder gezwungen, nach Rom zurückzukehren, um die von den Räubern geforderte Summe zu beschaffen; sie sollten vorgeben, diesen Betrag nicht so schnell aufbringen zu können, und die Räuber würden dann, wenn sie kein Geld bekämen, ihrer Drohung gemäß Francesco Cenci ermorden. Auf diese Weise würde niemand daraufkommen, die wahren Urheber dieses Mordes zu verdächtigen.
Als jedoch zu Beginn des Sommers Francesco Cenci von Rom nach Petrella aufbrach, unterrichtete der Spion, der von der Abreise Nachricht geben sollte, die in den Wäldern untergebrachten Banditen zu spät, und sie konnten nicht rechtzeitig die Landstraße erreichen. Cenci gelangte ungehindert nach Petrella; die Räuber aber, die es müde waren, auf die zweifelhafte Beute zu warten, plünderten anderwärts auf eigene Rechnung.
Der alte Cenci seinerseits, schlau und argwöhnisch wie er war, setzte sich niemals der Gefahr aus, die Festung zu verlassen. Und da seine schlechte Laune mit den ihm unerträglichen Gebrechen des Alters wuchs, behandelte er die beiden armen Frauen noch schlechter, unter dem Vorwand, daß sie sich über seine Schwäche freuten.
Durch all das Entsetzliche, was sie zu ertragen hatte, zum Äußersten getrieben, ließ Beatrice Marzio und Olimpio unter die Mauern der Festung rufen. In der Nacht, während ihr Vater schlief, sprach sie durch ein tief gelegenes Fenster mit ihnen und warf ihnen Briefe zu, die an Monsignore Guerra gerichtet waren.
Durch diese Briefe wurde vereinbart, daß Monsignore Guerra Marzio und Olimpio tausend Piaster versprechen sollte, wenn sie selbst bereit wären, die Ermordung Francesco Cencis zu übernehmen. Ein Drittel der Summe sollte im voraus in Rom durch Monsignore Guerra ausgezahlt werden, die beiden anderen Drittel durch Lucrezia und Beatrice, sobald sie nach vollbrachter Tat im Besitz der Kassette sein würden, in der Cenci sein Geld verwahrte. ...
So geschah es also am Abend des 9. Septembers 1598, daß Francesco Cenci, dieser Mann, der so schwer zu täuschen war. In tiefen Schlaf fiel, nachdem ihm Mutter und Tochter mit viel Geschick Opium eigegeben hatten.
Gegen Mitternacht ließ Beatrice selbst Marzio und Olimpio in die Festung ein; dann führten Lucrezia und Beatrice sie in das Gemach des Greises, der fest schlief. ... Der eine setzte dem schlafenden Greis einen großen Nagel senkrecht aufs Auge; der andere trieb diesen Nagel mit einem Hammer in den Kopf hinein. Ein zweiter großer Nagel durchbohrte die Kehle, und so entführte der Teufel die arme, mit so vielen Sünden beladene Seele; der Körper aber sträubte sich vergebens dagegen. ...
... die beiden Frauen ... entfernten ... zunächst die Nägel aus Kopf und Hals des Leichnams; dann hüllten sie ihn in ein Bettuch und zogen ihn durch eine lange Zimmerflucht bis zu einer Galerie, die nach einem kleinen, verlassenen Garten zu lag. Von dort warfen sie den Toten hinab auf einen großen Holunderstrauch, der an diesem einsamen Orte wuchs. Da sich am äußersten Ende dieser kleinen Galerie Räume befanden, so hofften beide, wenn man am nächsten Tage den Leichnam des Greises in den Zweigen des Holunders fände, würde man annehmen, er sein auf dem Wege zu den Räumlichkeiten ausgeglitten und da hinabgefallen.
Es kam genau so, wie sie es vorhergesehen hatten. Als man am Morgen die Leiche fand, gab es in der Festung große Aufregung; auch sie versäumten nicht, laut zu jammern und den unglücklichen Tod des Vaters und Gatten zu beweinen. Aber die junge Beatrice besaß zwar den Mut der beleidigten Unschuld, nicht aber die nötige Lebensklugheit; schon am frühen Morgen hatte sie einer Frau, die in der Festung die Wäsche wusch, ein blutbeflecktes Laken gegeben und ihr gesagt, sie solle nicht erstaunt sein über soviel Blut, aber sie habe die ganze Nacht hindurch an starken Blutungen gelitten. Für den Augenblick ging so alles gut. Man bereitete Francesco Cenci ein ehrenvolles Begräbnis, und die Frauen kehrten nach Rom zurück, um die Ruhe zu genießen, die sie schon solange vergebens ersehnt hatten. Sie glaubten nun für immer glücklich zu sein, da sie nicht wußten, was unterdes in Neapel geschah.
Die Gerechtigkeit Gottes, die nicht wollte, daß ein so grausiger Verwandtenmord ungestraft bliebe, sorgte dafür, daß man in jener Stadt bald erfuhr, was sich in der Festung Petrella zugetragen hatte. Der Oberrichter schöpfte Verdacht und entsandte einen königlichen Kommissar, die Leiche zu besichtigen und die Verdächtigen zu verhaften. Der königliche Kommissar ließ also alle Bewohner der Festung festnehmen. Sie wurden in Ketten nach Neapel gebracht; an den Aussagen schien nichts verdächtig außer der Angabe der Wäscherin, sie habe von Beatrice ein blutbeflecktes Laken erhalten. Man fragte sie, ob Beatrice diese großen Blutflecke zu erklären versucht hätte; darauf antwortete sie, Beatrice habe von einem natürlichen Unwohlsein gesprochen. Nun fragte man sie weiter, ob wohl Flecke von derartiger Größe von einem solchen Unwohlsein herrühren könnten; das verneinte sie, da die Flecke auf dem Tuch zu hellrot gewesen wären.
Diese Aussage übersandte man unverzüglich der Justizbehörde in Rom; jedoch vergingen mehrere Monate, bevor man daran dachte, die Kinder Francesco Cencis festnehmen zu lassen. Lucrezia, Beatrice und Giacomo hätten sich tausendmal retten können, ... aber Gott verwehrte ihnen diese glückliche Eingebung.
Als Monsignore Guerra von den Ereignissen in Neapel Nachricht bekam, sandte er sofort Männer aus, die Marzio und Olimpio töten sollten; aber nur Olimpio konnte bei Terni umgebracht werden. Die neapolitanische Gerichtsbehörde hatte Marzio bereits verhaften und nach Neapel bringen lassen,wo er sofort alles gestand.
Diese furchtbare Aussage wurde sogleich an die römische Justiz geschickt, die sich daraufhin endlich entschloß, Giacomo und Bernardo Cenci, die einzigen überlebenden Söhne Francescos, sowie seine Witwe Lucrezia festnehmen zu lassen und sie ins Gefängnis von Corte Savella einzuliefern. Beatrice wurde im Palast ihres Vaters von einem großen Aufgebot von Sbirren bewacht. Marzio wurde von Neapel überführt und ebenfalls im Gefängnis von Savella untergebracht; ... Dieser war begeistert von der wunderbaren Schönheit des jungen Mädchens und der erstaunlichen Beredsamkeit, mit der es dem Richter antwortete, und er leugnete alles, was er in Neapel eingestanden hatte. Man folterte ihn, aber er gestand nichts und zog es vor, auf der Folter zu sterben, um damit der Schönheit Beatrices eine angemessene Huldigung darzubringen. Da nach dem Tode dieses Mannes der Tatbestand nicht bewiesen war, fanden die Richter keinen ausreichenden Grund, die Söhne Cencis oder die beiden Frauen auf der Folter zu befragen. Man brachte sie alle vier auf die Engelsburg, wo sie mehrere Monate in aller Ruhe verlebten.
Alles schien beendet zu sein, und in Rom zweifelte niemand mehr daran, daß dieses schöne und mutige junge Mädchen, das so lebhafte Teilnahme erweckt hatte, bald freigelassen würde, als unglücklicherweise die Polizei den Banditen aufgriff, der Olimpio in Terni getötet hatte; er wurde nach Rom gebracht und gestand alles.
Monsignore Guerra, der durch das Geständnis des Banditen in höchstem Grade bloßgestellt war, wurde aufgefordert, unverzüglich vor Gericht zu erscheinen; das Gefängnis war ihm sicher, wahrscheinlich sogar der Tod. Dem vortrefflichen Manne, dem das Schicksal die Gabe verliehen hatte, alles zum Guten zu wenden, gelang es jedoch, sich auf wunderbare Weise zu retten. Er galt als der schönste Mann am päpstlichen Hofe und war in Rom zu bekannt um auf Rettung hoffen zu können; außerdem, paßte man an den Toren scharf auf, und wahrscheinlich wurde auch sein Haus vom Augenblick der Vorladung an überwacht. Er war sehr groß, hatte ein schneeweißes Gesicht, einen schönen blonden Bart und wunderbares Haar von der gleichen Farbe.
Mit unglaublicher Schnelligkeit bestach er einen Kohlenhändler, legte dessen Kleider an, ließ sich Haare und Bart scheren, färbte sein Gesicht, kaufte zwei Esel und zog als hinkender Kohlenverkäufer durch die Straßen Roms. Mit großem Geschick gab er sich ein gewisses ungeschliffenes und stumpfsinniges Aussehen und rief, den Mund voll Brot und Zwiebeln, überall seine Kohle zum Kauf aus, während ihn Hunderte von Häschern nicht nur in Rom, sondern auch auf allen Landstraßen suchten. Als seine Erscheinung den meisten Häschern wohlbekannt war, wagte er es endlich, Rom zu verlassen, wobei er immer seine zwei mit Kohle beladenen Esel vor sich hertrieb. ...
Das Geständnis des Mörders von Terni und Monsignore Guerras Flucht, die in Rom gewaltiges Aufsehen erregte, ließen die Verdachts- und Beweisgründe gegen die Cenci wieder derart aufleben, daß man sie aus der Engelsburg, herausholte und in das Gefängnis Savella zurückbrachte. Als man die beiden Brüder auf die Folter spannte, bewiesen sie keineswegs die gleiche Seelengröße wie der Bandit Marzio; sie waren kleinmütig genug, alles zu gestehen.
Signora Lucrezia Petroni war dermaßen an Bequemlichkeit und größten Luxus gewöhnt, und außerdem so dick, daß sie die Tortur des Streckens nicht ertragen konnte; sie sagte alles, was sie wußte.
Bei Beatrice Cenci aber, dem lebhaften und tapferen jungen Mädchen, war es durchaus nicht so. Weder mit guten Worten noch mit Drohungen konnte der Richter Moscati etwas erreichen. Sie ertrug die Tortur des Streckens ohne die geringste Schwäche und mit außerordentlichem Mut. Nie gelang es dem Richter, sie zu einer Antwort zu verleiten, die sie im geringsten bloßgestellt hätte; vielmehr brachte sie mit ihrer geistvollen Lebhaftigkeit den berühmten Ulysse Moscati, der mit ihrer Vernehmung beauftragt war, völlig aus der Fassung. Er war dermaßen verblüfft über das Verhalten dieses jungen Mädchens, daß er es für seine Pflicht hielt, Seiner Heiligkeit, dem glücklich regierenden Papst Clemens VIII., von allem zu berichten.
Seine Heiligkeit wünschte die Akten des Prozesses einzusehen. Er befürchtete, daß der Richter Ulysse Moscati, so berühmt er auch wegen seines reichen Wissens und seiner geistigen Überlegenheit war, von der Schönheit Beatrices besiegt wäre und sie bei den Verhören schonte. Deshalb entzog ihm Seine Heiligkeit die Leitung des Prozesses und übergab sie einem anderen, strengeren Richter. Und dieser Barbar hatte tatsächlich den Mut, einen so schönen Körper erbarmungslos ad torturam capillorum zu foltern (d.h., Beatrice Cenci wurde beim Verhör an den Haaren aufgehängt).
Während sie an dem Strang hing, ließ der heue Richter ihre Stiefmutter und ihre Brüder zu Beatrice hereinbringen. Sobald Giacomo und Signora Lucrezia sie sahen, riefen sie aus: »Die Sünde ist begangen; man muß auch die Sühne auf sich nehmen und sich nicht aus purem Trotz den Körper zerreißen lassen.«
»So wollt ihr also Schande über unser Haus bringen und schmachvoll sterben?« antwortete das junge Mädchen. »Ihr befindet euch in einem großen Irrtum; aber da ihr es wollt, so mag es geschehen!«
Und zu den Sbirren gewandt, sagte sie: »Bindet mich los und lest mir den Bericht über das Verhör meiner Mutter vor, ich werde zugeben, was zugegeben werden muß, und leugnen, was geleugnet werden muß.«
So geschah es; sie gestand alles, was der Wahrheit entsprach. Daraufhin nahm man ihnen allen die Ketten ab, und da Beatrice seit fünf Monaten ihre Brüder nicht gesehen hatte, wünschte sie mit ihnen zu speisen. So verbrachten sie alle vier einen sehr fröhlichen Tag. ...
Unser heiliger Vater der Papst hatte den authentischen Bericht über die Geständnisse aller Angeklagten gelesen, und er befahl, sie unverzüglich an die Schwänze wilder Pferde zu binden und zu Tode zu schleifen.
Ganz Rom schauderte vor Entsetzen, als es diese harte Entscheidung vernahm. Eine große Anzahl von Kardinälen und Fürsten warfen sich dem Papst zu Füßen und flehten ihn an, den Unglücklichen die Erlaubnis zur Verteidigung zu geben.
»Und haben sie etwa ihrem alten Vater Zeit gelassen, sich zu verteidigen?« antwortete der Papst entrüstet.
Schließlich erklärte er sich bereit, als besondere Gnade einen Aufschub von fünfundzwanzig Tagen zu gewähren. Sofort verfaßten die ersten Anwälte Roms Verteidigungsschriften zu diesem Falle, der die ganze Stadt in Aufregung und Mitgefühl versetzt hatte. Am 25. Tage erschienen sie gemeinsam vor Seiner Heiligkeit. Als erster sprach Nicolo De"Angalis, doch er hatte kaum zwei Zeilen seiner Verteidigungsschrift verlesen, als ihn Clemens VIII. unterbrach und ausrief: »Findet man denn in Rom wahrhaftig Menschen, die ihren Vater töten, und auch noch Anwälte, die diese Menschen verteidigen?«
Alle blieben stumm, bis Farinacci seine Stimme zu erheben wagte.
»Heiligster Vater«, sagte er, »wir sind nicht hier, um das Verbrechen zu rechtfertigen, sondern um nach Möglichkeit zu beweisen, daß einer oder mehrere dieser Unglücklichen an dem Verbrechen unschuldig sind.«
Der Papst bedeutete ihm, weiterzusprechen, und er redete drei volle Stunden; danach nahm der Papst ihre sämtlichen Schriftstücke an sich und entließ sie. ...
Der Papst wollte sich nicht zu Bett legen, sondern verbrachte die Nacht damit, die Plädoyers der Anwälte zu lesen, wobei er sich von dem Kardinal von San Marcello helfen ließ. Seine Heiligkeit schien so gerührt, daß etliche für das Leben der Unglücklichen einige Hoffnung hegten. Um die Söhne zu retten, luden die Advokaten die ganze Schuld auf Beatrice. Da der Prozeß bewiesen hatte, daß ihr Vater mehrfach in verbrecherischer Absicht Gewalt angewendet hatte, hofften die Anwälte, man werde ihr die Mordtat verzeihen, da sie sich in Notwehr befunden habe; wenn also die Haupturheberin mit dem Leben davonkäme, wie sollte man dann die Brüder, die von ihr verführt waren, mit dem Tode bestrafen?
Nachdem er diese Nacht seinen richterlichen Pflichten gewidmet hatte, befahl Clemens VIII., die Angeklagten ins Gefängnis zurückzuführen und in Einzelhaft zu nehmen. Dieser Umstand erweckte große Hoffnungen in Rom, das in dieser ganzen Angelegenheit nur an Beatrice dachte. Es war erwiesen, daß sie Monsignore Guerra zwar geliebt, niemals aber die Gebote strengster Tugend überschritten hatte: Von Rechts wegen konnte man ihr doch nicht die Schandtaten eines Ungeheuers zur Last legen und sie dafür bestrafen, daß sie von ihrem Verteidigungsrecht Gebrauch gemacht hatte! Was hätte man wohl getan, wenn sie nachgegeben hätte? Mußte denn die menschliche Gerechtigkeit das Unglück eines so liebenswerten, erbarmungswürdigen und ohnehin schon unglücklichen Geschöpfes noch vermehren? Hatte sie nach einem so traurigen Leben, das sie schon vor ihrem sechzehnten Jahre mit allem möglichen Unglück überhäuft hatte, nicht endlich ein Recht auf einige weniger schreckliche Tage? Jedermann in Rom hielt sich für beauftragt, sie zu verteidigen. Wäre ihr nicht verziehen worden, wenn sie Francesco Cenci bei seinem ersten verbrecherischen Versuch bereits erdolcht hätte?
Papst Clemens VIII. war mild und barmherzig. Wir begannen zu hoffen, daß er, ein wenig beschämt über die Laune, die ihn veranlaßt hatte, das Plädoyer der Anwälte zu unterbrechen, vielleicht der verzeihen würde, die Gewalt mit Gewalt vergolten hatte, und zwar nicht bei dem ersten Verbrechen, sondern erst bei einem wiederholten Versuche. Ganz Rom war in Unruhe, da erhielt der Papst die Nachricht vom gewaltsamen Tode der Marchesa Constanza Santa Croce. Ihr Sohn, Paolo Santa Croce, hatte sie, eine Dame von sechzig Jahren, erdolcht, weil sie ihn nicht als alleinigen Erben all ihrer Güter einsetzen wollte. Weiterhin stand in dem Bericht, daß Santa Croce entflohen sei und daß keine Hoffnung bestehe, ihn festzunehmen. Außerdem erinnerte sich der Papst des Brudermordes der Massini, der wenige Zeit vorher begangen worden war. Erschüttert über diese wiederholten Morde an nächsten Verwandten, glaubte Seine Heiligkeit, daß es ihm nicht erlaubt sei, Gnade walten zu lassen. ...
Am Freitag gegen 22 Uhr (in der vierten Abendstunde) ließ er den Gouverneur von Rom, Ferrante Taverna, rufen und sagte ihm wörtlich folgendes: "Wir übergeben Euch die Sache der Cenci, damit durch Eure Sorgfalt unverzüglich der Gerechtigkeit Genüge geschehe.«
Von dem empfangenen Befehle stark bewegt, kehrte der Gouverneur in seinen Palast zurück, er fertigte sofort das Todesurteil aus und berief eine Versammlung, um über die Art der Vollstreckung zu beraten.
Am Sonnabend, dem 11. September 1599, morgens, begaben sich die ersten Edelleute Roms, Mitglieder der Brüderschaft der Confortatori, in die beiden Gefängnisse, nach Corte Savella, wo Beatrice und ihre Stiefmutter untergebracht waren, und nach Tordinona, wo sich Giacomo und Bernardo Cenci befanden. Während der ganzen Nacht vom Freitag zum Sonnabend waren die römischen Edelleute, die von den Ereignissen wußten, ausschließlich damit beschäftigt, vom Palast auf dem Monte Cavallo zu den einflußreichsten Kardinalen zu laufen, um wenigstens zu erreichen, daß die beiden Frauen nicht auf einem öffentlichen Schafott, sondern im Inneren des Gefängnisses hingerichtet würden, und um die Begnadigung des jungen, kaum fünfzehnjährigen Bernardo Cenci zu erwirken, den man bestimmt nicht mit ins Vertrauen gezogen hatte. Besonders zeichnete sich im Verlauf dieser verhängnisvollen Nacht der edle Kardinal Sforza durch seinen Eifer aus, aber obwohl er ein mächtiger Fürst war, konnte auch er nichts erreichen. Das Verbrechen von Santa Croce war eine niedrige Tat, die er aus Geldgier begangen hatte, das Verbrechen Beatrices jedoch war zur Rettung ihrer Ehre geschehen.
Während die mächtigsten Kardinäle soviel unnütze Schritte unternahmen, hatte Farinacci, unser großer Rechtsgelehrter, den Mut, bis zum Papst vorzudringen; hier gelang es diesem hervorragenden Manne, mit viel Geschick das Gewissen Seiner Heiligkeit zu wecken und schließlich mit eindringlichen Bemühungen das Leben Bernardo Cencis zu retten.
Es mochte gegen vier Uhr morgens (am Sonnabend, dem I. September) sein, als der Papst diese entscheidenden Worte sprach. Die ganze Nacht hindurch hatte man an der Engelsbrücke an den Vorbereitungen zu dem grausigen Schauspiel gearbeitet. Alle notwendigen Abschriften des Todesurteils konnten jedoch nicht vor 5 Uhr morgens fertig sein, und so war es erst um 6 Uhr möglich, den armen Unglücklichen, die ruhig schliefen, die verhängnisvolle Nachricht zu überbringen.
Das junge Mädchen fand zunächst nicht einmal die Kraft, sich anzukleiden. Sie schrie durchdringend und unaufhörlich und überließ sich hemmungslos der fürchterlichsten Verzweiflung.
»O Gott«, rief sie, »wie ist es nur möglich, daß ich so unvermutet sterben soll?«
Lucrezia Petroni dagegen war sehr gefaßt; zunächst kniete sie nieder, um zu beten, und dann ermahnte sie ruhig ihre Tochter, mit ihr in die Kapelle zu kommen, wo sie sich beide für diesen bedeutsamen Gang vom Leben zum Tode vorbereiten wollten.
Diese Worte gaben Beatrice ihre Ruhe wieder; so sehr sie zuerst auch Unbeherrschtheit und Verzweiflung gezeigt hatte, so ruhig und vernünftig war sie nun, nachdem ihre Stiefmutter sie wieder zur Besinnung gebracht hatte. Von diesem Augenblick an war sie ein Vorbild an Standhaftigkeit, das ganz Rom bewunderte. ... Auf dem Platz an der Engelsbrücke hatte man ein großes Schafott mit Richtblock und Mannaja (einer Art Guillotine) aufgebaut. Um dreizehn Uhr (in der achten Morgenstunde) brachte der Orden der Barmherzigen Brüder ein großes Kruzifix vor das Tor des Gefängnisses. Giacomo Cenci trat als erster heraus; demütig warf er sich an der Schwelle des Tores auf die Knie, betete und küßte die heiligen Wundmale des Gekreuzigten. Sein junger Bruder Bernardo Ccnci folgte ihm, er war ebenfalls gefesselt und trug ein kleines Brett vor den Augen. Eine große Menschenmenge war versammelt, und es gab einen Tumult, weil aus einem Fenster eine Vase beinahe auf den Kopf eines Büßermönches gefallen wäre, der neben dem Banner herging und eine brennende Fackel trug.
Alle blickten auf die beiden Brüder, als unverhofft der Fiskal von Rom vortrat und sagte: »Signor Bernardo, unser allergnädigster Herr schenkt Euch das Leben; ergebt Euch darein, Eure Verwandten zu begleiten, und betet zu Gott für sie.»
Sofort nahmen ihm seine beiden Confortatori das kleine Brett von den Augen. Der Henker setzte Giacomo Cenci auf dem Karren zurecht und zog ihm sein Gewand aus, um ihn mit glühenden Zangen zu foltern. Als er zu Bernardo kam, prüfte er die Begnadigungsurkunde, band ihn los, nahm ihm die Handschellen ab, und da Bernardo vor der Folterung unbekleidet war, setzte er ihn auf den Karren und hüllte ihn in einen kostbaren, goldbetreßten Mäntel. (Man hat behauptet, daß es der gleiche war, den Beatrice nach der Mordtat in der Festung von Petrella Marzio geschenkt hatte). In die ungeheure Menschenmenge, die auf der Straße, an den Fenstern, und auf den Dächern stand, kam plötzlich Bewegung, man hörte ein dumpfes Gemurmel, und es verbreitete sich die Nachricht, daß der Knabe begnadigt sei.
Nun ertönten Bußpsalmen, und die Prozession zog langsam über die Piazza Navona nach dem Gefängnis Savella. ...
Unterdessen wurde der arme Giacomo Cenci auf dem Karren gefoltert und zeigte dabei große Standhaftigkeit.
Die Zahl der Wagen und die Volksmenge waren so groß, daß die Prozession den unteren Teil des Platzes an der Engelsbrücke kaum überqueren konnte. Die Frauen geleitete man sofort in die dafür vorgesehene Kapelle, danach wurde auch Giacomo Cenci hingeführt.
Den jungen Bernardo in seinem goldbetreßten Mantel brachte man geradewegs aufs Schafott, und alle glaubten, er sei nicht begnadigt worden und sollte ebenfalls hingerichtet werden. Der arme Knabe hatte solche Angst, daß er nach wenigen Schritten auf dem Schafott ohnmächtig zusammenbrach. Mit frischem Wasser brachte man ihn wieder zu sich und setzte ihn auf einen Platz gegenüber dem Fallbeil.
Der Henker holte nun Signora Lucrezia Petroni; ... Als sie oben angelangt war und man ihr den schwarzen Taftschleier abnahm, litt sie sehr darunter, daß man sie mit entblößter Schulter und Brust sah; sie blickte auf sich, dann auf das Fallbeil, und hob zum Zeichen der Ergebung langsam die Schultern; ihre Augen füllten sich mit Tränen, und sie sagte: »O mein Gott!... Meine Brüder, betet für meine Seele.« ...
(Die folgenden Einzelheiten sind zwar für Italiener erträglich, die immer alles mit letzter Genauigkeit wissen wollen; dem französischen Leser mag es genügen zu erfahren, daß die Ärmste sich infolge ihres Schamgefühls an der Brust verletzte; der Henker zeigte dem Volke das Haupt und hüllte es dann in den schwarzen Taftschleier).
Während man das Fallbeil für das junge Mädchen in Ordnung brachte, stürzte ein mit Neugierigen besetztes Schaugerüst ein, und es gab viele Tote. Diese erschienen so noch eher als Beatrice vor Gott.
Als Beatrice das Kirchenbanner zur Kapelle zurückkommen sah, um sie abzuholen, fragte sie erregt: »Ist meine Frau Mutter würdig gestorben?«
Man bejahte ihr die Frage, und sie warf sich vor dem Kruzifix auf die Knie und betete inbrünstig für ihre Seele. ...
Danach sprach sie mehrere Psalmen und Gebete zum Lobe Gottes, Als schließlich der Henker mit einem Strick vor ihr erschien, sagte sie: »Binde den Körper, der Strafe verdient, und befreie diese Seele, die zu Unsterblichkeit und ewiger Seligkeit gelangen soll.«
Dann erhob sie sich, betete, ließ ihre Pantoffel am Fuße der Treppe zurück, und nachdem sie das Schafott erstiegen hatte, schwang sie behende das Bein über das Brett, legte ihren Hals unter das Fallbeil und setzte sich selbst richtig zurecht, um jede Berührung durch den Henker zu vermeiden. Durch die Schnelligkeit ihrer Bewegungen vermied sie es, daß das Publikum in dem Moment, als man ihr den Schleier wegzog, ihre Schultern und ihre Brust sah. Da unvermutet ein Hemmnis auftrat, dauerte es lange, bis der tödliche Schlag fiel. Währenddessen rief sie mit lauter Stimme Jesus Christus und die Heilige Jungfrau an. Im Augenblick des Todes zuckte der Körper heftig zusammen. Der arme Bernardo Cenci, der immer auf dem Schafott gesessen hatte, fiel von neuem in Ohnmacht, und die Confortatori brauchten länger als eine halbe Stunde, ihn ins Bewußtsein zurückzurufen. Nun bestieg Giacomo Cenci das Schafott; aber hier müssen wir die allzu schrecklichen Einzelheiten übergehen. Giacomo Cenci wurde erschlagen (mazzolato). ...
Die Menschenmenge bei diesem Schauspiel war unzählbar; soweit der Blick reichte, waren die Straßen voll von Wagen und Menschen, und die Schaugerüste, Fenster und Dächer waren mit Neugierigen besetzt. Die Sonne brannte an diesem Tage so sehr, daß viele Leute ohnmächtig wurden. Unzählige wurden vom Fieber befallen, und als nach neunzehn Uhr (ein Viertel vor der zweiten Nachtstunde) alles beendet war und die Menge sich zerstreute, waren viele erdrückt oder von Pferden zermalmt worden.

Stendhal, Novellen, Die Cenci (der Text ist in sich gekürzt), S. 158 ff., ? Dieterich‘sche Verlagsbuchhandlung zu Leipzig, 1954