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Jeremy Rifkin: Warum der Europäische Traum es Wert ist, gerettet zu werden


Jeremy Rifkin ist vermutlich der erfolgreichste Autor politischer Sachbücher weltweit. Der Amerikaner ist Gründer der Foundation on Economic Trends und hat in den letzten zehn Jahren mehrere ökonomisch-politische Visionen entworfen, die internationale Beachtung gefunden und wichtige Diskussionen ausgelöst haben. Zu seinen letzten Büchern gehören „Access – das Ende der Arbeit“, eine These die heute aktueller ist als je zuvor, und „Die Wasserstoff-Revolution“. Seine Gedanken über alternative Strategien der Energieversorgung werden im schauspielfrankfurt ebenso eine Rolle spielen, wie seine Beschreibung des „Europäischen Traums“.

Folgender Text entstand auf der Grundlage eines Gesprächs zwischen Jeremy Rifkin und Daryl Lindsey für Spiegel International / 28.7.2005. Übertragung ins Deutsche von Sibylle Baschung.

Stellen Sie sich vor: Europa im Jahre 2030. Der letzte Arbeitsplatz in der Automobilherstellung wurde nach China verlegt, das Sozialsystem kollabiert, weil die Bevölkerung soweit geschrumpft ist, daß die Renten nicht mehr bezahlt werden können, die Konkurrenz aus dem Ausland und eine kontinuierlich stagnierende Wirtschaft haben den Handel erstickt. Immigranten sind mehr denn je von der Gesellschaft isoliert und ihr entfremdet, tief verwurzelt in Parallelgesellschaften quer über dem Kontinent verteilt. Der Traum der Europäischen Gemeinschaft ist schon längst vergessen.

Kein schönes Bild, aber es könnte eintreten. Das Scheitern des Referendums über die europäische Verfassung in Frankreich und den Niederlanden stürzte Europa in seine größte politische Krise der Nachkriegszeit. Europa befindet sich in einer Identitätskrise epischen Ausmaßes. Soll es sein bereits angeknackstes Sozialsystem aufrechterhalten oder soll es direkt den Sprung wagen zum Kapitalismus nach dem angelsächsischen Modell, wie es in Amerika und England praktiziert wird: eine erprobte Joberschaffungsmaschine? Ist Europa das Land Baguette knabbernder Franzosen und Weißwurst essender Bayern oder sollte es sich verstehen als Schmelztiegel für Einwanderer wie die Vereinigten Staaten, ein Denken, das eher der Realität eines Kontinents entsprechen würde, auf dem bereits 15 Millionen muslimische Immigranten leben? Diese Debatten blockieren gegenwärtig den Prozeß der europäischen Einigung, der dringend nötigt ist, um die Probleme einer zunehmend globalisierten Welt anzugehen. Ein zentraler Moment in der europäischen Geschichte: Die Entscheidungen, die in den kommenden Monaten gefällt werden, könnten den Ausschlag dazu geben, ob die EU in Zukunft zu den Gewinnern oder Verlierern der Globalisierung gehören wird.

Der Amerikanische Traum galt lange Zeit als Maßstab für jedermann. Amerika ist ein hartes Pflaster, aber es ist das Land der Möglichkeiten. Wenn du eine gute Bildung erhältst und hart arbeitest, kannst du Erfolg haben im Leben. Es ist ein individueller Traum über individuelle Möglichkeiten und Eigeninteressen. Leider hat sich dieser Traum in den letzten 40 Jahren komplett aufgelöst. […]

Meiner Ansicht nach gibt es aber einen mächtigen, noch wachsenden Traum, der jenseits des Atlantiks auftaucht. Er begann nach dem Zweiten Weltkrieg mit der Generation Willy Brandts. Er lernte laufen in den 1960er-Jahren mit der Baby-Boom-Generation und reift nun mit den jungen Europäern oder der „Generation E“. Dieser Traum wächst. Als ein Beobachter ist es interessant zu sehen, daß es sich dabei um das spiegelverkehrte Version des Amerikanischen Traums handelt. Aber ich denke, daß sich der Europäische Traum besser eignet für die Herausforderungen einer globalisierten Welt.

Der Amerikanische Traum konzentriert sich auf die private Anhäufung von Reichtum und individuellen Erfolg, wogegen der Europäische Traum sich mehr auf Lebensqualität konzentriert. Der Amerikanische Traum betont Wachstum, während sich der Europäische Traum gleichzeitig auf – wie Europäer es nennen – „nachhaltige Entwicklung“ konzentriert. Es gibt eine tiefe Affinität in Kontinentaleuropa zu umfassenden Fragen die Umwelt betreffend. Umwelt zählt etwas, biologische Vielfalt ebenso. Die EU-Mitgliedstaaten unterzeichneten das Abkommen zum Schutz der Biodiversität und waren die großen Verfechter des Klimaschutzabkommens. Sie sind dabei, den Übergang zu erneuerbaren Energien anzugehen und setzten den Maßstab in der Umstellung zu biologischer, nachhaltiger Landwirtschaft. Sie gehen effizienter mit ihrem Energiehaushalt um und in Brüssel wird derzeit die REACH-Verordnung verhandelt (Verordnung zur Registrierung, Evaluierung und Autorisierung von Chemikalien), wonach chemische Stoffe auf mögliche Gesundheitsgefährdungen getestet werden müssen, bevor sie in die Umwelt gelangen. […]

Der Amerikanische Traum konzentriert sich auf Eigentums- und Bürgerrechte, da sie die Unabhängigkeit und Freiheit des Individuums fördern. Die Europäer hingegen legen wesentlich mehr Wert auf soziale Rechte und universelle Menschenrechte. Gesundheitsversorgung ist in Europa ein Recht. Ebenso wie bezahlter Urlaub und Rente. In den USA jedoch ist öffentliche Bildung das einzige Recht, welches momentan in unserer Gesellschaftsstruktur verankert ist. […]

Und während es beim Projekt der Europäischen Union um Friedenssicherung geht, beschäftigt sich der Amerikanische Traum engagiert mit dem Aufbau einer starken militärischen Präsenz, denn für uns ist das Böse mehr als eine bloße Metapher und wir denken, daß man über eine starke militärische Schlagkraft verfügen muß.

Das erste globale Gewissen

Die Europäische Union ist für viele Menschen verwirrend, da sie auf der Aufteilung von Macht basiert und es hierfür keinen Präzedenzfall gibt. 1945 setzten sich die Menschen zusammen, um […] nach einem neuen Weg zu suchen, sich selbst zu regieren auf der Basis von Kooperation und Vertrauen. Das Besondere daran ist, daß dies noch nie zuvor in der Geschichte geschehen ist. Bis zu diesem Zeitpunkt basierte jede Regierung, jede Nation und jedes Imperium auf Zwang, Gewalt, der Besetzung von Territorien und gewaltsamen Revolutionen. Sogar die modernen Demokratien sind großteils durch Blutvergießen entstanden.
Die Entwicklung der EU läuft diesem historischen Kontext diametral entgegen. Irgendwie haben es drei Generationen, insbesondere die letzen beiden geschafft, für Frieden zu sorgen. […] Die meisten Europäer glauben an die Integration und daran, daß niemand komplett vom freien Markt ausgeschlossen werden darf. Es sollte ein Bewußtsein der kollektiven Verantwortung für die weniger Erfolgreichen geben, für die Bewahrung der kulturellen Vielfalt und für die Idee, daß jede Kultur ein Geschenk ist, an dem jeder in Europa Teil haben kann.
Unnötig zu erwähnen, daß dieser Traum noch nicht überall in Europa gelebt wird und man könnte stundenlang über Heuchelei, Vorurteile, Machtkämpfe und das Scheitern im Umgang mit Immigration diskutieren. Europa ist in einem prekären Zustand.
Trotz allem ist dies das erste Mal, daß ein kollektiver Teil der Menschheit einen Traum hatte, so instabil er auch sein mag, der ein globales Gewissen ausdrückt. Er kann scheitern, er ist möglicherweise zu ambitioniert oder zu zart, aber er ist dennoch ein Traum, beruhend auf einem globalen Gewissen für eine globalisierte Welt.