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Hauptartikel Kollektives Lesen eines Buches mit Hilfe der Imagination in Frankfurt />
Alvis Hermanis />
Alvis Hermanis: Gespräch in MANIFESTO 15.10.2005 />
Brigitte Fürle.
Der Übersetzer Andreas Tretner über die Inszenierung />
Pressestimmen />
Wunderkasten Theater - Alvis Hermanis im Gespräch mit Brigitte Fürle />

Weiterführende Links:

Sorokin in Berlin />
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Zuschauer-Rezensionen lesen />

Das Eis

Brigitte Fürle.


Ich habe dieses Buch in einem Atemzug gelesen, es geradezu verschlungen. Vladimir Sorokins neuester Roman, Ljod.Das Eis, beginnt wie ein mittelmäßiges Drehbuch für einen Fernsehkrimi, Hauptabendsendezeit: "Ein dunkelblauer Geländewagen, Marke Lincoln Navigator, fuhr ein. Stoppte. Im Scheinwerferlicht zu sehen: Betonfußboden, Ziegelwände, Trafokästen, Rollen mit Erdkabel ... Zigarettenkippen, eine tote Ratte, zwei eingetrocknete Kothaufen. ... Uranow und Rutman waren ausgestiegen. Öffneten die Heckklappe. Auf dem Boden des Kofferraums zwei Männer in Handschellen. Die Münder verklebt. ... ", um jedoch auf den nächsten drei Seiten ordentlich zur Sache zu kommen. Geheimnisvolle Sektenmitglieder im heutigen Moskau haben zwei blauäugige, blonde Männer entführt, um sie an einem abgelegenen Ort mit Hilfe eines "kosmischen Eishammers" aufzuklopfen. Zurück bleibt im Fall des ersten Opfers eine blutig zerschlagene Leiche - "taube Nuss, Fleischmaschine ohne Herz, ein hohles Schwein", hingegen beginnt sich mit dem Aufprall des Eishammers direkt auf das entblößte Brustbein des zweiten Kandidaten dessen Herz zu regen: "Lass" dein Herz sprechen, dein Herz, dein liebes Herz!", betteln die Peiniger und das Herz dieses Jungen beginnt zu stammeln und zu glühen. Man fährt ihn "in ein Krankenhaus der Erwachten", wo man ihn gesundpflegt, und mit "der Zärtlichkeit des Herzen der Auserwählten" bekannt macht, "endlich befreit von der Krankheit, die man iridische Liebe nennt". Es folgen weitere Szenen ausführlicher Beschreibungen unaufhörlich neuer, aufgeklopfter Menschen, immer schlicht mit der Beschreibung des Täterfahrzeugs beginnend: Der Geländewagen für den jungen Studenten, ein weißer Wolga für eine Prostituierte und ein blauer Peugeot für einen Geschäftsmann. In einem großen Erzählbogen dieser akribisch beschriebenen Einzelschicksale holt Sorokin zu einem genial komponierten, apokalyptischen Weltuntergangszenario aus - frei schwebend zwischen science fiction, worin Sorokin als Meistererzähler und Superstar der jungen russischen Literatur gilt, und christlicher Moraltheologie, oder vielmehr, einem Märchen im Endzeitfieber, das in naiv eindringlichen Sätzen eine Religion der Liebe verkündet. - Liebe als eine Angelegenheit von Auserwählten - verkündet: 23 000 lebendige Herzen sollen es auf dem Planeten Erde sein und wenn alle wiedererweckt und vereint würden, könne sich die Erde endlich in Nichts auflösen, die sprechenden Herzen würden sich in kosmisches Licht zurückverwandeln, und der Mensch, als Irrtum der Schöpfung, wäre von seinem Dasein erlöst. Im zweiten Teil des Romans setzt Sorokin auf die Erzählperspektive einer jungen Russin, die deutsche Arbeitslager und stalinistische Säuberungswellen als Herzenssprachige überlebt. Eine atemberaubende Zeitreise durch totalitäre, menschenvernichtende Systeme - ohne Unterschied werden Verbrechen der Nationalsozialisten und der Stalin-Ära, Faschismus und Kommunismus zur zeitgeschichtlichen Folie auf der metaphysischen Suche nach dem neuen Menschen. Eine metaphysische Suche, die in den politisch größten menschenvernichtenden Systemen unter Hitler und unter Stalin Millionen Menschen das Leben kostete. Ljod. Das Eis ist auch eine Geschichte auf der Suche nach Erlösung, die der Mensch ersehnt, der Erlösung von der Schuld.
Vladimir Sorokins Theaterstücke und Romane erzählen in grotesker und dem Genre der Horrorliteratur vergleichbarer Form immer auch von gesellschaftlichen und menschlichen Abnormitäten in totalitären Systemen, von Kannibalismus und Naziverbrechen, de Sadschen Folterphantasien und stalinistischer Menschenvernichtungsmaschinerie gleichermaßen, vom Albtraum eines russischen Schriftstellers auf "Jahresurlaub" in einem Konzentrationslager in Ein Monat in Dachau oder einem kannibalisierenden Pärchen in Pelmeni. Zuletzt erregte er in Russland Aufsehen mit einem Strafprozess, sein Roman Der himmelblaue Speck wurde mit Pornographieverdacht (Chruschtschow kopuliert mit Stalin) belegt und Putintreue Jugendgruppen spülen seine Bücher öffentlich in Klos hinunter.
Was mich an Ljod. Das Eis tatsächlich berührt, ist, im Gegensatz zu Sorokins bisherigen Werken, eine kindlich naiver aber mit Hartnäckigkeit beschriebener Blick, (wenngleich perfide als übernatürliche Sekte vom Autor imaginiert), inmitten der Greuel, die der Mensch verursacht, auch dessen Liebesfähigkeit als treibende Kraft zu beschreiben. Und davon zu erzählen, das der Mensch immer noch ein kosmisches Wesen ist, und nicht nur ein Haufen rapide alterndes Zellmaterial wie bei Houllebecq. Das ist tröstlich und erschreckend gleichermaßen, darin liegt die große Faszination dieses Romans, der jetzt schon als Sorokins Meisterwerk gilt. Ljod.Das Eis ist mit akribisch genauen Regieanweisungen, Beschreibungen der Figuren und der Schauplätze geschrieben, ein fertiges Drehbuch für einen Film, genauso gut aber auch ein perfektes Szenario für ein Theaterstück, kein Wort muß verändert werden. Die Dialoge stehen von selbst. Es ist keine Frage der Dramatisierung, sondern vielmehr, des künstlerischen Konzepts, wie hier ein Roman zum Theaterereignis werden kann. Und Alvis Hermanis, der lettische Regisseur, der Ljod.Das Eis am schauspielfrankfurt zur Uraufführung bringen wird, hat hier ein klares Konzept, das unter dem Titel Kollektives Lesen eines Buches mit Hilfe der Imagination in Frankfurt (weitere Stationen in Riga und bei der Ruhrtriennale in Galdbeck werden folgen) hauptsächlich die ersten beiden Teile des Romans in Betracht zieht. Und wie der Titel ahnen läßt, sich als Theatermacher durchaus "werktreu" dem vorliegenden Text nähern wird.
(Originalbeitrag für das Jahrbuch 2004 von Theater Heute)

Brigitte Fürle, Dramaturgin am schauspielfrankfurt und Leitung Internationale Kontakte. Als Kuratorin des Young Directors Project bei den Salzburger Festspielen entdeckte sie 2003 den lettischen Theaterregisseur Alvis Hermanis, seine Inszenierung Der Revisor, erstmals außerhalb Osteuropas gezeigt, gewann den Young Directors Award der Salzburger Festspiele 2003. Die Zusammenarbeit von Alvis Hermanis und Brigitte Fürle wird mit Hermanis" Inszenierung Kollektives Lesen eines Buches mit Hilfe der Imagination in Frankfurt nach Sorokins Das Eis am schauspielfrankfurt fortgesetzt, Uraufführung findet am 22. Januar 2006 im Kleinen Haus statt. Kollektives Lesen eines Buches mit Hilfe der Imagination ist eine Koproduktion des schauspielfrankfurt mit der Ruhrtriennale 2005, wo in der Maschinenhalle Zeche Zweckel in Gladbeck Ende August eine weitere Premiere der Produktion stattfindet.