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Hauptartikel Kollektives Lesen eines Buches mit Hilfe der Imagination in Frankfurt />
Alvis Hermanis />
Alvis Hermanis: Gespräch in MANIFESTO 15.10.2005 />
Brigitte Fürle. />
Der Übersetzer Andreas Tretner über die Inszenierung />
Pressestimmen />
Wunderkasten Theater - Alvis Hermanis im Gespräch mit Brigitte Fürle

Weiterführende Links:

Sorokin in Berlin />
Video Kollektives Lesen />

Zuschauer-Rezensionen lesen />

Das Eis

Wunderkasten Theater - Alvis Hermanis im Gespräch mit Brigitte Fürle


Brigitte Fürle: Alvis, du wirst zum ersten Mal nicht in deiner Heimat Lettland als Theater- regisseur arbeiten, wo du bereits über 20 Inszenierungen gemacht hast, viele, fast alle davon preisgekrönt mit lettischen Kritiker-auszeichnungen. Und das sehr rasch, nach-dem du deine Schauspielerkarriere beendet hast und ins Regiefach gewechselt bist. Für deine erste ›Auslandsregie‹ hier am schauspielfrankfurt hast du einen schwierigen Text ausgesucht, Ljod. Das Eis von Vladimir Sorokin, erstmal ist es kein Stück, sondern ein Roman, es beschreibt Nazi- und Stalin- Verbrechen auf der Suche nach dem Neuen Menschen perfide im Genre eines Science-Fiction-Romans und spielt mit dem Mythos des Neuen Menschen genauso wie mit unserer Sehnsucht, uns Menschen als kosmische Wesen, und nicht nur als viel zu rasch alternde Zellhaufen zu begreifen. Von Anfang an, seit wir über diese Produktion sprechen, hast du betont, daß du diesen Roman für das Theater denkst und daß du dabei immer auch an das deutsche Theater gedacht hast. Du hast den Roman im russischen Original gelesen und wirst ihn jetzt zuerst auf deutsch
›inszenieren‹ und dann auch auf lettisch, welche Absicht steckt dahinter?

Alvis Hermanis: Es ist nicht das erste Mal, daß ich als Regisseur außerhalb meiner Heimat mit
ausländischen Schauspielern ein Stück inszeniere. Das habe ich schon ein paar Mal gemacht, allerdings ist das zehn Jahre her. Das war in Estland, in Tallinn. Ich hatte mich in eine Estin verliebt, die jedoch in festen Händen war, aber ich mußte um jeden Preis in ihrer Nähe sein. Ich verließ meine Rigaer Wohnung, gab meine Arbeit am Theater auf und fuhr nach Tallinn. Dort ging ich zu einem Theaterdirektor und bat ihn um Arbeit und einen Platz zum Schlafen. So verbrachte ich acht Monate in Tallinn. Während dieser Zeit habe ich meine Estin erobert, und inzwischen haben wir beide zwei Töchter. Ja, und während dieser acht Monate habe ich auch zwei Inszenierungen mit estnischen Schauspielern gemacht, die eine mir unverständliche Sprache sprachen. Zweifellos ist es sehr viel organischer und sinnvoller, daheim mit den eigenen Schauspielern Stücke zu inszenieren. Aber manchmal gibt es eben ganz private Gründe oder eine andere besondere Motivation, es trotzdem zu versuchen. Im jetzigen Fall ist meine Motivation sowohl eine sehr große Neugier zu versuchen, im Kontext des deutschsprachigen Theaters zu arbeiten, aber auch die Tatsache, daß mein Sohn aus erster Ehe bereits seit sieben Jahren in Frankfurt lebt. Ich komme aus Riga, einer lettischen Stadt, die sich historisch stets zwischen den Einflüssen deutscher und russischer Kultur befand, auch hinsichtlich der Theatertraditionen. In Riga haben sowohl Richard Wagner und Max Reinhardt als auch Michail Tschechow (einer der berühmtesten russischen Schauspieler der ersten Hälfte des 20. Jh., A. d. Ü.) gewirkt. Ich selber bin gelernter Schauspieler. Die Schauspielschule, die ich absolviert habe, baut auf der russischen Theatertradition auf. Als
Regisseur jedoch habe ich meine Inszenierungen immer als dem deutsch-sprachigen Theaterraum organischer zugehörig empfunden. Schauen wir mal, wie das in der Praxis aussieht. Es hat nur in Rußland oder Deutschland Sinn, einen Text von Sorokin zu inszenieren. Oder in Lettland, das genau zwischen diesen beiden Staaten liegt und deshalb die Möglichkeit eines objektiven Standpunktes bietet. Es wäre sinnlos, diesen Text in Frankreich oder Schweden zu inszenieren. Beginnen wir mit Deutschland.Zunächst, weil du und Elisabeth
Schweeger die ersten waren, die mir ein entsprechendes Angebot gemacht haben. Zudem habe ich vor, denselben Text auf eine andere Art und Weise im ›Jaunais Rīgas teātris‹ (Neues Theater Riga) zu machen. Außerdem hat mir Jürgen Flimm angeboten, noch eine Version dieses Textes – allerdings sowohl mit deutsch- als auch mit lettisch-sprachigen Schauspielern – für die Ruhrtriennale zu inszenieren, und zwar nicht auf einer kleinen Bühne wie im Frankfurter Kleinen Haus, sondern in einer Fabrikhalle von gigantischen Ausmaßen in Gladbeck. Alle drei Inszenierungen könnten den gleichen Namen tragen – Kollektives Lesen eines Buchs mit Hilfe der Imagination –, unter Hinzufügung des jeweiligen Städtenamens. Die drei Inszenierungen werden viele Gemein-samkeiten, aber auch viele Unterschiede aufweisen, da es sich trotz allem um drei verschiedene Interpretationen handeln wird.

Fürle: Du hast einen sehr auffälligen Titel für diese Theaterarbeit gewählt: Kollektives Lesen eines Buches mit Hilfe der Imagination in Frankfurt. Normalerweise geht man davon aus, daß der Zuschauer das Stück kennt oder speziell vor einem Theaterbesuch noch einmal liest, um sich vorzubereiten, oder auch nicht. Du willst diese Vorarbeit mit dem Zuschauer teilen?

Hermanis: Nein, natürlich nicht. Wir werden das Buch gemeinsam lesen, während der Vorstellung. Übrigens möchte ich gleich zu Anfang betonen, daß diese Produktion keinerlei politischen oder ideologischen Subtext haben wird. Weder Hitlers noch Stalins
Verbrechen interessieren mich im geringsten, und ich glaube auch nicht, daß da noch etwas Neues hinzuzufügen wäre. Ich gehöre nicht zu jenen Künstlern, die das Theater als Instrument benutzen, um die Welt zu verbessern. Soll sie bleiben, wie sie ist. Außerdem ist die Geschichte meines Heimatlandes so, daß meine Eltern einander niemals begegnet wären, wenn es Hitler und Stalin nicht gegeben hätte – und somit wäre ich nie geboren worden.

Fürle: Was bedeutet das Publikum für dich in dieser Produktion?

Hermanis: Der Mechanismus des Theaters sieht per se eine gewisse Manipulation des Publikums durch den Regisseur vor. So war es immer, und offensichtlich ist es genau das, was das Publikum wollte und will. Diese ›Lügen‹ müssen jedoch stets glaubwürdig sein, denn nur dann ist das Publikum freiwillig dazu bereit, sich täuschen zu lassen. Ähnlich wie in dem Gespräch zwischen zwei Freundinnen: Von mir aus soll mich mein Mann betrügen, vorausgesetzt, ich erfahre nichts davon. Natürlich möchte das Publikum stets Zeuge des Wunders der Kunst sein, und das ist etwas ganz anderes als zum Beispiel ein Kartentrick.

Fürle: Wir sollten mal deine Arbeit als Regisseur zurückverfolgen, die Entwicklung die zu Kollektives Lesen… führen wird, beschreiben. Mit Marquis de Sade, das ich vor über zehn Jahren beim Torún Festival in Polen gesehen habe, das war höchst artifizielles stilisiertes Theater, bis zu dem melancholisch-komischen Revizor (Der Revisor), eine
höchst ›figurative‹, von sowjetischen TV-Serien beeinflußte Arbeit, die wir Westeuropäer zwar nicht kannten, weshalb es uns mehr an die Malerei des spanischen Künstlers Botero erinnerte, aber es war jene Arbeit, mit der du schlagartig als Theaterkünstler berühmt wurdest. In meiner damaligen Tätigkeit als Kuratorin des Young Directors Project, eines von Montblanc getragenen Regiewettbewerbs bei den Salzburger Festspielen, warst du einer der internationalen Teilnehmer und schließlich Gewinner des Young Directors Award. Bei deiner Rückkehr nach Lettland wurdest du gefeiert wie ein Olympiasieger und ein Jahr darauf trat Lettland der EU bei, inzwischen hast du zahlreiche Einladungen zu Festivals erhalten und bist gemeinsam mit Oskaras Koršunovas einer der meisteingeladenen Theaterkünstler des Baltikums. Welchen Einfluß haben all diese Entwicklungen auf deine Theaterarbeit?

Hermanis: Es gibt Künstler, die ihr ganzes Leben lang ein und dasselbe Bild malen. Oder Regisseure und Schauspieler, die das ganze Leben ihren Stil pflegen und ihn reproduzieren. Ich finde das langweilig. Ich erarbeite jede neue Inszenierung nach jeweils grundsätzlich anderen inneren Gesetzen, und es hat keinen Zweck, die Produktionen miteinander zu vergleichen und auf Zusammenhänge zu untersuchen, denn zu Beginn jeder Arbeit sage ich sowohl mir selbst als auch den Schauspielern: Machen wir etwas, wozu wir nicht in der Lage sind, denn das, wozu wir in der Lage sind, ist doch langweilig. Die Auslandsgastspiele meiner Inszenierungen haben nichts mit dem Wesen meiner Arbeit zu tun, denn diese beiden Aktivitäten – das Erarbeiten einer Inszenierung und das Reisen zu Festivals – sind zutiefst antagonistisch. Während der alltägliche Prozeß des Theaters sehr introvertiert ist, eine stille und überaus intime Arbeit, sind die Interessen der ausländischen Produzenten absolut extrovertiert, sie interessieren sich für attraktive Theaterevents, Show und Publicity. Dies sind zwei gegeneinander gerichtete Vektoren. Meine Arbeit ist es, Inszenierungen zu machen, und nicht, sie zu vermarkten. Aber wenn sie eingeladen werden und bei einem internationalen Publikum Anerkennung ernten, dann kann ich mich darüber nur freuen.

Fürle: Erzähle uns von deinem Alltag als Künstlerischer Leiter am Jaunais Rīgas
teātris, einem wunderschönen Jugendstiltheater im Herzen von Riga, dein ›Büro‹ erinnert vielmehr an ein Boudoir, na ja du nennst es ja auch nicht Büro, sondern Kabinett, ›Alvis’ Jahrhundertwendekabinett‹. Du machst da ja nur eine Inszenierung pro Jahr, im Unterschied zu den deutschen Kollegen, die eine Arbeit nach der anderen machen.
Was ist Regie für dich?

Hermanis: Ich arbeite am Jaunais Rīgas teātris – einem ganz normalen staatlichen Repertoiretheater mit festem Schauspielensemble usw. Eine Theatereinrichtung also, wie sie überall in Deutschland zu finden ist. Sicher, ich habe vielleicht auch ein paar ›technische‹
Eigenarten, wenn ich eine neue Inszenierung vorbereite. So sind beispielsweise die Schauspieler in sehr hohem Maße Co-Autoren der Inszenierung. Wenn ein Schauspieler nur egozentrisch an seiner eigenen Rolle interessiert ist, dann riskiert er, sich vom Ensemble zu isolieren. Meine Inszenierungen sind jedoch immer dezidierte Ensembleinszenierungen,
in denen es keine großen und kleinen Rollen gibt, sondern alle gleichwertig sind. Meine Erfahrung zeigt – als wäre es ein Gesetz –, daß große Schauspieler offen und großzügig
sind, und indem sie geben statt zu nehmen, profitieren sie umso mehr. Ein Theaterregisseur ist ein Mensch, der sich für ein paar Stunden einen etwa tausend Kubikmeter großen Raum von Gott ausleiht, einen ›Kasten‹, in dem er für einen kurzen Augenblick seine eigene, von ihm phantasierte Realität erschafft.

Fürle: Was erhoffst du dir von deiner Zeit in Frankfurt, davon, entfernt von zu Hause zu arbeiten, in einer anderen Sprache, die du gerade dabei bist, zu erlernen?

Hermanis: Ich hoffe, daß ich in Frankfurt eine interessante Zeit verbringen werde. Über das Endresultat kann ich nichts sagen; vielmehr interessiert es mich, etwas Neues über das
Leben, über die Menschen zu erfahren. Das ist der Punkt – wenn man am Theater arbeitet, muß man sich für das Leben interessieren, nicht für das Theater. Dafür sollen sich die Theatertheoretiker und Kritiker interessieren. Der Werkstoff und das Ziel des Theaterpraktikers ist das Leben selbst. Die Unkenntnis der deutschen Sprache könnte eine Barriere darstellen, aber in meinen Inszenierung ist die Sprache nur ein Element von vielen, mehr nicht. Momentan habe ich etwas Zeit, Deutsch zu lernen. Ich hoffe, die Sprache so weit kennenzulernen, um zu verstehen, wie die Satzkonstruktion funktioniert, um Rhythmus und Akzent der Sprache kontrollieren zu können.

Fürle: Wir haben oft darüber gesprochen, wie unterschiedlich wir leben. Und dabei kam
jedesmal so etwas wie ein sehr starker Heimatbegriff auf, der die Letten verbindet. Du sagst ja auch, daß du nie daran denkst, woanders leben zu wollen als in Lettland, daß jeder dort sehr viel auf Familienleben hält, etwas, das in der deutschen Theaterwelt nur sehr schwer möglich ist. Ist diese Bindung an das Zuhause wirklich soviel stärker als bei uns?

Hermanis: Ich weiß es nicht. Vielleicht. Wir sind eine kleine Nation und orientieren uns deshalb umso mehr an dem, was uns zusammenhält. Jedenfalls stimmt es, daß die Menschen in jenem Teil der Welt, aus dem ich komme, nicht so pragmatisch und rational sind. Gefühle und andere irrationale Substanzen sind dort normalerweise wichtiger als Geld, Karriere und Komfort.

Fürle: Vor kaum 15 Jahren wurde die Unabhängigkeit Lettlands nach 46 Jahren sowjetischer Okkupation wiederhergestellt, und jetzt seid Ihr auch schon EU-Mitglied. Das ging doch rasend schnell, ist das nicht ein bißchen viel Veränderung in so kurzer Zeit?

Hermanis: Meine Heimat Lettland und der Businessplan namens Europäische Union sind zwei Paar Schuhe, die ich hübsch auseinanderhalte. Für mich bedeutet Lettland beispielsweise meine Freunde oder mein 30 Hektar großes Stück Land, ein Gebiet reiner und urbelassener Natur, wo ich mich frei fühle und glücklich bin. Die EU hingegen ist eine utilitäre und funktionelle Angelegenheit, die unser Leben manchmal bequemer macht – und manchmal genau das Gegenteil. Mehr nicht. Und Riga gehörte immer zu Europa. Angefangen damit, daß diese Stadt von Deutschen gegründet und siebenhundert Jahre lang auch überwiegend von ihnen bewohnt wurde.

Fürle: Was war dein schönster Moment im Theater zuletzt?

Hermanis: Meine letzte Rigaer Premiere Latviešu stãsti (Lettische Geschichten bzw Geschichten von Letten), nach der ich die Schauspieler unseres Theaters
nahezu vergöttere. Vor einem halben Jahr habe ich jedem von ihnen aufgetragen, einen
zufällig getroffenen Menschen näher kennenzulernen und alle erdenklichen Informationen über ihn zusammenzutragen – mit dem Ziel, eine kleine Inszenierung zu erarbeiten, die diesem konkreten Menschen gewidmet ist. Das Ergebnis sind zwanzig je vierzigminütige Inszenierungen, in denen die Schauspieler nicht nur in den Geist und den Körper ihres jeweiligen Prototypen schlüpfen, sondern auch die Geschichte des jeweiligen
Menschen erzählen, indem sie sein Leben auf die Ebene einer poetischen Gestalt erhöhen. Die Arbeit der Schauspieler war ein Mittelding zwischen der Arbeit eines Archäologen und eines Dichters. Oder eines Detektivs. Ja, genau: Das Verhältnis des Schauspielers gegenüber seiner Rolle muß so sein wie die eines Kriminalbeamten, der im Zusammenhang mit einem Verbrechen ermittelt. Und danach ein Gedicht darüber schreibt.