¯Zurück
 
Spielplan


Termine Großes Haus:

16. März 2005

Weitere Infos

Hauptartikel Schlingensief intim - Fickcollection, A. Hipler />
Elisabeth Schweeger im Gespräch mit Christoph Schlingensief

Zuschauer-Rezensionen lesen />

Schlingensief intim - Fickcollection, A. Hipler

Elisabeth Schweeger im Gespräch mit Christoph Schlingensief


Elisabeh Schweeger: Bist du Parzival?

Christoph Schlingensief: Das dürfte ich niemals von mir behaupten. Der Name ist urheberrechtlich geschützt, das gäbe sofort Ärger mit den Wagner-Erben, Hausdurch-suchungen und DNA-Analysen. Man muß als künstlerisch arbeitende Ich-AG heute sehr vorsichtig sein, daß man sich nicht verhebt. Lieber schön ruhig und im Kunsträumchen bleiben, da kann einem nichts passieren.

Schweeger: Ist Theater noch Sinnproduktion? Oder inwiefern produziert dein ›Theater‹ Sinn für die Zuschauer?

Schlingensief: Sinnproduktion habe ich mir nie auf die Fahnen geschrieben, was andererseits Herrn Stadelheim und seine Deutungsunter-tanen von der FAZ immer wieder vorschnell zum Schluß kommen läßt, daß ich Unsinn produziere oder noch besser: Unsinn provo-ziere. Mit beidem habe ich aber wahrscheinlich viel weniger zu tun als so mancher Kultur-wächter selbst. Ich bin noch so moralisch veranlagt, daß ich mir nicht anmaße, Sinn für Dritte zu produzieren und ihnen CARE-Pakete voll mit Lösungen zuzuwerfen. Das unter-scheidet mich von vielen Theaterkritikern und bestimmt auch von vielen Regisseuren. Sinnsuche ist viel spannender und wird heutzutage ja auch immer zeitaufwendiger. Wenn sich dann tatsächlich einmal Restspuren nachweisen lassen, sollte sie jeder für sich selbst zusammenbauen, sogar jeder Zuschauer.

Schweeger: Du entwickelst eine neue Darstellerkultur. Unterläufst du damit das herkömmliche institutionalisierte Theater bzw. die institutionalisierte Kunstproduktion?

Schlingensief: Das hat wenig mit Unterwanderung zu tun, das klingt gleich wieder so terroristisch. Und wo sind die großen deutschen Rebellen heute gelandet? Thomas Gottschalk moderiert ›Wetten daß …?‹, und Joschka Fischer gibt sein Familienwappen in Auftrag. Vergangene Woche schöpfte ich kurz Hoffnung, als n-tv meldete, Fischer habe beinahe sein eigenes Dienstflugzeug zum Absturz gebracht. Aber das war mal wieder eine voreilige Information … Wer bleibt von den Rebellen jetzt noch übrig, abgesehen von Roland Koch? Ganz im Gegenteil berufe ich mich auf die institutionalisierte Freiheit der Kunst, die ja gerade aus Reihen der Kunst mehr und mehr unterwandert wird. Da gibt es inzwischen eine unglaubliche Selbst-zufriedenheit, den Hang, nur noch kurz das Süppchen aufzukochen, das beim letzten Mal schon keinem geschmeckt hat; außerdem eine wachsende Tendenz zur sittsamen Massen-belehrung. Die reicht dann von wortwörtlichen Untergrundfilmchen mit Onkel Hitler, der behauptet Bruno Ganz zu sein, bis zum tausendsten „Wilhelm Tell“, der in moderner Inszenierung darauf verweist, daß er nur noch auf Bioäpfel schießt. Da läuft alles extrem einwandfrei ab und ist genauso extrem degeneriert, künstlich beatmet und klinisch tot. Ich will mir den Selbstzweifel bewahren, also auch den Zweifel an meinem eigenen Kunstbegriff. Auch mit mir selbst darf es nie so weitergehen wie zuvor! Nach Film, Theater, einer Oper und Aktionen deshalb jetzt der Abschied von jeder einzelnen Form und der Versuch, sie in meinem neuen Projekt „Der Animatograph“ zu verschmelzen. Dazu braucht es keine Schauspieler mehr, nur authentische Ichs zwischen Island und Namibia…

Schweeger: Wenn du mit Laien oder Behinderten arbeitest, schaffst du neue Helden für das Theater und die Welt?

Schlingensief: Ich bin doch nicht Frankenstein! Die Leute von der Straße oder die von Amts wegen Behinderten, die mit mir gearbeitet haben, waren schon Helden, lange bevor ich
sie getroffen habe. Die brauchen das Theater bestimmt nicht, aber das Theater braucht sie, um mal ganz kurz wieder zu Bewußtsein zu kommen. An der Volksbühne läuft zur Zeit Hosea Dzingirais ›Kunst und Gemüse‹, das ich produziert habe und das erstmals ganz ohne
Schauspieler auskommt. Da treten u.a. Karin Witt, eine kleinwüchsige Dame, und Angela Jansen, eine an ALS leidende Frau auf, aber nicht als Vertreter einer Minderheit, die man bemitleiden müßte, sondern als gemeinsamer Organismus, der völlig intakt ist und von
Aufführung zu Aufführung besser funktioniert. Das einzige, was diesen Abend zerstören würde, wären Schauspieler. Anschließend poltern dann Moralapostel wie Herr Sartorius, der Intendant der Berliner Festspiele, oder Herr Jessen, der Westentaschen-Stadelmeier von der ZEIT, das sei ja unerträglich, man dürfe keine Behinderten mißbrauchen und das habe doch alles mit Theater nichts zu tun. Dabei behauptet den ganzen Abend auf der Bühne niemand, daß es da um seine persönliche Behinderung ginge. Da leisten nachher also ganz erhabene Herrschaften ihre Offenbarungseide, wie man die Welt zu sehen und Behinderte zu behandeln habe. Ich habe mit Karin Witt oder Horst Gelonneck, der beim ›Quiz 3000‹ auch schon am schauspielfrankfurt gewesen ist, schon interessantere Gespräche über Deutschland oder sein Theater geführt als mit jedem dieser Damen und Herren. Deshalb gehören diese Helden ins Theater und Herr Sartorius als achter Zwerg in den Otto-Film.

Schweeger: Du brichst aus dem Theater aus, gehst auf Straßen, Plätze, fährst nach Afrika oder Island. Was gewinnst du daraus für Europa?

Schlingensief: Europa ist für mich keine wirklich relevante Dimension, spätestens seitdem Helmut Kohl zum Ehrenbürger Europas ernannt worden ist. Wieso sich gleich einen ganzen Kontinent in die Besserungsanstalt zerren? Wir haben doch mit Deutschland, deutschem Alltag und deutschen Ablenkungsmanövern genug zu tun.

Schweeger: Du hast die Strukturen, die unsere Gesellschaft bestimmen – Medien und Theater – genau begriffen und benutzt sie. Du operierst auch damit und machst damit nicht selten eine Gratwanderung zwischen Tradition und – ja was? War das einer der Gründe, warum du dir auch die Übernahme des Deutschen Theaters in Berlin
vorstellen konntest?

Schlingensief: Ich würde es nicht so stehen lassen wollen, irgendwelche Strukturen oder Mechanismen genau begriffen zu haben. Ich mache, wie jeder andere, meine Erfahrungen. Ich bin aber nicht so gut darin, mir große Erfahrungsschätze anzulegen, sondern reagiere eher reflexartig. Deshalb kann etwas fürchterlich leerlaufen, es kann aber auch großartige Momente ergeben, wie 2003 beim Pfahlsitzen der ›Church of Fear‹ an der Frankfurter Hauptwache. Da gab es auch keine Drehpläne, Textbücher oder ähnliches … Mit einem solchen Reflex eröffne ich ein Kraftfeld, in das ich möglichst viele, möglichst heterogene Leute hineinziehen möchte. Bestenfalls funktioniert das wie ein Stromstoß. Es ist aber auch schon vorgekommen, daß uns der Saft abgedreht wurde. Damit meine ich natürlich nicht das Frankfurter Ordnungsamt! Als man mich anrief und fragte, ob ich das Deutsche Theater übernehmen würde, habe ich auch keine Intendantenerfahrung vorweisen können. Ich habe mir das im Wissen um meine Stärken aber problemlos zugetraut und die Frage reflexartig bejaht. Ein Haus, das namentlich eingesteht, daß Deutschland ein Theater ist, wäre ideal für mich. Bis es soweit ist, spekuliere ich stark auf die Intendanz am schauspielfrankfurt.

Schweeger: Das heißt, in die Institution reingehen, um sie von innen her zu sprengen? Nach dem alten Motto: Umarme den Feind und meide den Freund, der alten 68er Theorie?

Schlingensief: Die 68er-Theorien sind heute schon wieder konservativer als die Hosenanzüge von Frau Merkel. Ich haue niemandem aufs Maul, schließlich bewerbe ich mich nicht für den Posten des Außenministers. Ich würde es eher eine kreative Belagerung nennen. Die muß man auch selbst immer wieder aushalten und kann anschließend woanders weitersuchen. Ich habe noch nie eine Institution in die Luft gesprengt. Ich würde aber, glaube ich, mit dem Theater anfangen …

Schweeger: Alles Kunst und Gemüse – alles für einen Euro?

Schlingensief: Wenn möglich, billiger als ein Euro, vor allem das Gemüse. Und Theater bitte nicht länger genmanipuliert und gespritzt!