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Das unmögliche Werk

Von Terje Sinding




Das unmögliche Werk
Von Terje Sinding

Die zwölf letzten Stücke von Ibsen bilden einen Zyklus, und dieser Zyklus stellt in seiner Form eine Gesamtheit dar. Er hat den Anspruch, die Welt auszudrücken oder genauer: eine Welt, nämlich die des Bürgertums des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Dieses Bürgertum befindet sich nun also auf dem Höhepunkt seiner Macht, aber schon erscheinen Zweifel, Gewißheiten stürzen ein. Und es ist genau dieser Zweifel, den Ibsen ergründen wird. Nach Brand und Peer Gynt, wo die Bühne das Universum darstellt, entscheidet sich der Autor von nun an für reduzierte Formen, um eine Welt auszudrücken, die nichts monolithisches mehr an sich hat. Die Fragmente, die „Lebensabschnitte“ im naturalistischen Sinne, setzen sich durch. Aber Ibsen hört nicht auf, die naturalistische Ästhetik zu transzendieren und die gesamte Welt in das kleine Format des bürgerlichen Dramas hineinzubringen.
Das Vorgehen ist jedes Mal dasselbe: Angefangen beim Dachboden, wohin sich Hedwig mit ihren Tieren und Bäumen flüchtet (Die Wildente) - die weite Welt ist mitten im reduzierten Rahmen der Wohnung der Familie Ekdal präsent - bis zur kleinen Kurstadt des Volksfeinds, wo sich Petrus und der Heilige Thomas, die Gewißheit und der Zweifel, in den Zügen des Bürgermeisters Peter Stockmann und seines Bruders, dem Kurarzt Tomas, gegenüberstehen. Und die durch das Fenster wahrgenommene Landschaft in den Gespenstern funktioniert in der gleichen Art und Weise: sie ist „das Gebirge im Wohnzimmer, die Schlucht im Schlafzimmer“, wie es François Regnault ausdrückt. Des weiteren bemerken wir in dieser Landschaft ein Zitat, das die ebenso ungastliche Landschaft aus Brand aufgreift. Die Gespenster bilden so eine Brücke zwischen der Welt der großen dramatischen Gedichte und der des allerletzten Werkes von Ibsen, Wenn wir Toten erwachen, wo wir eine Dramaturgie wiederfinden werden, die nicht in die vier Wände des bürgerlichen Wohnzimmers eingeschlossen ist. Doch diese Landschaft hat auch andere Funktionen und ihre Präsenz ist eng mit der zentralen Figur des Stückes verbunden – einer Figur, die überdies die Protagonisten der letzten Stücke des Zyklus erahnen läßt.
Solness (Baumeister Solness), der Philosoph Allmers (Klein Eyolf), der Hochstapler Borkman (John Gabriel Borkman) und der Bildhauer Rubek (Wenn wir Toten erwachen) können noch so deutlich individualisiert und mit einer Biografie ausgestattet sein, eine exemplarische Figur hebt sich trotzdem hinter jedem von ihnen ab. Tatsächlich erscheinen sie alle als eine Metapher des Dichters, dessen Rolle es gerade ist, die Welt auszudrücken. So machen sie sich zu Schöpfern: der seine Grube ergründende Borkman konstruiert sich eine wahrhaft unterirdische Welt. Wenn sie sich auch nicht für Gott halten, versteht es Rubek dennoch wie Pygmalion, seiner Statue Leben einzuhauchen, indem er diese wierdererweckt, die er zuvor seiner Kunst opferte. Es ist ihr Scheitern, das uns erzählt werden wird. Solness stirbt, indem er von dem Turm, den er soeben gebaut hatte, stürzt; Borkman wird bei dem Versuch, sein Reich zurückzuerobern, umkommen; Rubek und Irene werden unter einer Lawine verschüttet enden, und die Personen aus Klein Eyolf finden ihr Heil nur in der Entsagung der Begierden.
Mit Osvald Alving tritt zum ersten Mal die Figur des Künstlers auf. Osvald ist Maler
und kehrt aus Paris zurück, wo er in den Künstlerkreisen der jungen Malerei gelebt
hat. Nun befinden wir uns im Jahre 1881, die erste Ausstellung der Impressionisten
hat 1874 bei Nadar stattgefunden, und die Polemik bezüglich dieser neuen
ästhetischen Strömung wütet in den Künstlerkreisen. Die jungen norwegischen Maler
werden sich sehr schnell dafür interessieren. Wie die vorhergehende Generation sind
sie zum größten Teil von Deutschland beeinflußt und reagieren gegen die dunkle
Farbauswahl, die zu dieser Zeit in der nordischen Malerei vorherrscht. Inspiriert von
Corot und den Impressionisten, werden sie eine Freiluft-Malerei in lebendigen und
leuchtenden Farben entwickeln. Die Federführenden dieser Generation, Christian
Krohg, Frits Thaulow, Erik Werenskiold und Hans Heyderdahl machen ab dem Ende
der 1870er Jahre häufige Besuche in Paris. Es ist verlockend, Osvald und diese
Maler nebeneinander zu stellen. Dies scheint umso mehr gerechtfertigt als Osvald
selbst die Leuchtkraft seiner Gemälde erwähnt: „Mutter, hast du nicht gemerkt, daß
alles, was ich gemalt habe, mit Lebensfreude zu tun hat? Immer und immer wieder mit
Lebensfreude. Licht, Sonne, klarer Himmel, - und strahlende, fröhliche Menschen.“
Osvald, der Maler des Lichts und der Realitätsbeobachtung, steht so für eine Modernität, der Ibsen durchweg anzuhängen scheint. Optimismus und der Glaube an den Fortschritt markieren in der Tat den Eröffnungstext des Ibsenschen Zyklus: in den Stützen der Gesellschaft sehen wir Lona Hessel der Basis eines neuen sozialen Konsens’, der auf dem „Geist der Wahrheit und Freiheit“ gegründet ist, das Wort reden. Doch die Desillusionierung wird schnell zum Vorschein kommen und durch Osvalds Werdegang wird sie an den Tag gelangen. Daß es gerade eine Künstlerfigur ist, die sie verkörpert, hat offensichtlich nichts Ungewolltes an sich. Ibsen zeigt uns damit, daß diese Desillusionierung im Mittelpunkt seines eigenen Diskurses steht.
Osvalds Wiederbegegnung mit Norwegen steht von Anfang an unter dem Zeichen der Enttäuschung. Nichts erscheint weniger leuchtend als die Landschaften, die er dort entdeckt. Durch die verglasten Fenster des Wintergartens seiner Mutter „erkennt man im Sprühregen den traurig und düster daliegenden Fjord“, und draußen hört es nicht auf zu regnen. Ab dem ersten Akt wird dieser Regen als eine der Ursachen für Osvalds Müdigkeit eingeführt, und der Regen ist ebenfalls einer der Gründe für sein Unvermögen, zu arbeiten. Eine sehr starke Opposition zeichnet sich infolgedessen ab, nämlich zwischen hier und dort, zwischen Norwegens Regen und der Pariser Sonne. Eine Opposition, die den Gegensatz zwischen dem Hedonismus und dem Puritanismus überschneidet, da Norwegen explizit mit einem „Jammertal“ verglichen wird, wo den Menschen beigebracht werde, „daß die Arbeit ein Fluch ist und eine Strafe für ihre Sünden und das Leben so jämmerlich, daß wir es am besten hinter uns bringen, je früher, desto besser“, und wo man nicht weiß, was Lebensfreude bedeutet. Norwegen steht somit Paris gegenüber, wo „keiner mehr an solche Weisheiten glaubt“ und wo „man jubelt vor Glück allein darüber, daß man existiert.“
Es ist dieser Hedonismus, dieser Jubel, den Osvald nicht müde wird, in seiner Kunst zu erfassen und der künftig außer Reichweite von ihm ist. Denn nun ist er von seiner Krankheit gelähmt und unfähig, schöpferisch tätig zu sein. Und seine Krankheit begreift er zunächst, typisch viktorianisch, als an die sonnige Welt, an die Welt des Exzesses gebunden: „Dieser wunderbaren, dieser glücklichen Jugend in Gemeinschaft meiner Kameraden hätte ich entsagen sollen. Meine Kräfte haben sie nicht ausgehalten. Es war mein Fehler“. Durch den Mund seiner Mutter wird er indessen erfahren, daß die Krankheit ganz im Gegenteil, die Frucht des hiesigen Puritanismus ist. Denn es ist gut und gerne der Puritanismus, der aus seinem Vater, dem „Kind der Lebensfreude“ einen Wüstling gemacht hat, der die Krankheit an seinen Sohn weitergegeben hat. Und Osvald meint, daß die gleiche Sache ihm geschehen könne:
OSVALD Deshalb hab ich Angst davor, hier bei dir zu bleiben.

FRAU ALVING Angst? Wovor hast du Angst hier bei mir?

OSVALD Ich habe Angst, daß alles, was mich bewegt, hier nur häßlich würde.

FRAU ALVING (sieht ihn fest an) Glaubst du, das würde passieren?

OSVALD Ich weiß es. Und würde man hier genau dasselbe Leben leben wie da draußen, es wäre doch nicht dasselbe Leben.
Die Dinge sind umkehrbar: Unter der Einwirkung eines Ortswechsels, eines Klimawechsels kann die Lebensfreude sich in ihr Gegenteil verwandeln. Die Widersprüchlichkeit der Bilder reflektiert hier die Instabilität der Welt und die Ungewißheiten der Personen.
Doch falls Osvald auch nicht vom Regen ernsthaft krank geworden ist, erscheint dieser trotzdem als eine Metapher für alles Schlechte, an dem er leidet. Er nimmt seine Krankheit in der Tat als „Weichheit“ wahr, die vor der Verflüssigung steht. Und bei der Suche nach einem Licht, das nunmehr unerreichbar erscheint, wendet er sich allem, was brennt, zu. Unter diesem Sonnenersatz befindet sich unter anderem der Alkohol: erst dieser „sehr starke“ Likör, der „gut ist gegen die Feuchtigkeit“, dann der kalte Punsch, um „diese Angst zu ertränken“, und schließlich der Champagner, der implizit mit der Lebensfreude assoziiert wird. Es gibt auch das Feuer als reinigendes Element, das die Heuchelei des dem Andenken des Vaters gewidmeten Kinderheims zerstört, und das Osvald geradezu unwiderstehlich anzieht. Schließlich tritt in überraschender Weise die Krankheit selbst auf, die mit dem Feuer assoziiert wird, da Osvald sich danach verzehrt. In dieser Weise hört der Sonnenersatz nicht auf, hinab zu sinken, um immer zerstörerischer zu werden. Und als die Sonne in der allerletzten Szene endlich aufgeht, tut sie dies über einer Eislandschaft: kalt, ungastlich und unmenschlich. Die Sonne erscheint hier als eine Sonne des Todes.
Diese schreckliche Schlußszene ist sehr aufschlußreich in der Hinsicht, in der Ibsen versucht die Widersprüchlichkeiten der naturalistischen Ästhetik zu transzendieren. Auf den ersten Blick befinden wir uns in der Unsprachlichkeit: der Dialog – sofern man überhaupt von einem Dialog sprechen kann – ist auf eine Abfolge von Fragen, Ausrufen und Schreien reduziert, und das ganze scheint von der einfachen Übertragung eines Anfalls im medizinischen Sinne abgehoben. Näher betrachtet erkennen wir indessen, daß diese Szene den Prinzipien einer sehr strengen Organisation gehorcht. Diese Prinzipien gehören im wesentlichen der bildlichen Ordnung an: Frau Alving und ihr in die Kindheit zurückgefallener Sohn scheinen in einer Art Pietà vereint, die einen Todesauftakt und nicht eine Geburtsfeierlichkeit darstellt. Diese Wirkung wird übrigens genau durch einen Replikenwechsel angekündigt, der der Schlußszene kurz vorangeht.

OSVALD Jetzt mußt du mir dabei helfen, Mutter.

FRAU ALVING (schreit laut) Ich!

OSVALD Ist das nicht das Nächstliegende?

FRAU ALVING Ich! Deine Mutter!

OSVALD Eben deshalb.

FRAU ALVING Ich habe dir das Leben geschenkt!

OSVALD Ich habe dich nicht darum gebeten. Und was ist das für ein Leben? Ich will es nicht! Nimm es zurück!

Die Art, wie sich die Personen in den Raum einschreiben, hat nichts freies an sich: Osvald sitzt dem Publikum gegenüber, während hinter ihm die Sonne über einer Landschaft aufgeht, die durch das Fenster zerschnitten ist und sie so wie ein Gemälde rahmt. Die Haltung der Person scheint die der Protagonisten einiger Gemälde Edvard Munchs anzudeuten, die uns von der unteren Hälfte des Bildes anschauen, während sich hinter ihnen eine Szene ausbreitet, von der sie ausgeschlossen scheinen – insbesondere denkt man hier an Mélancholie (1892) oder an l’Assassin dans l’allée (1919). Doch die Personen tragen häufig die Züge des Malers selbst, und das, was sich hinter ihnen abspielt, ist offenbar eine Szene ihres inneren Theaters. Trotz ihrer Position erscheinen sie wie Vermittler zwischen den Zuschauern und der Szene, der sie den Rücken zukehren.
Ist die Gletscher- und Berglandschaft, die in brutalem Licht dieser Schlußszene erscheint, das Werk Osvalds? Oder genauer: das Werk, das er nun unmöglich vollenden kann? Ibsen scheint dies zu suggerieren. In einer ähnlichen Landschaft ereignet sich die finale Katastrophe aus Wenn wir Toten erwachen, das den Ibsen’schen Zyklus schließt. Hier ist die Landschaft nicht mehr ein einfaches Element des Bühnenbildes, sie wird nicht mehr durch ein Fenster gerahmt, sondern durch den Bühnenrahmen, der den gesamten Raum einnimmt und gipfelt buchstäblich in dem Verschlingen der Personen: „Und plötzlich hört man ein vom Gletscher kommendes Donnergrollen. Stücke lösen sich und stürzen den Abhang in schwindelerregender Geschwindigkeit hinab. Man bemerkt die Körper von Rubek und Irene, die mitgerissen und bald von den Schneemassen verschüttet werden“.
Am Ende des Ibsenschen Zyklus’ zerfällt die Welt und der Dichter geht mit ihr unter. Aber jenseits des Dichtertodes zeugt sein Werk von seinem Streben. Man hört förmlich Rubek, der an diese Auferstehung erinnert, für die Irene posiert hat und an der er sein gesamtes Leben lang nicht aufhörte zu arbeiten: „Ich war jung zu dieser Zeit. Ich ignorierte alles vom Leben. Es schien mir, als könnte man der Auferstehung kein schöneres und wunderbareres Antlitz geben als das einer reinen, jungen Frau – ohne jede Erfahrung des irdischen Lebens – die in einer Welt voll Licht und Glanz aufwacht, ohne sich vom Häßlichen und Unreinen befreien zu müssen“. Dann ist Irene gegangen, und der Schöpfer fährt fort zu arbeiten: „ Ich habe dem hinzugefügt, was ich um mich herum gesehen habe. Ich mußte es hinzufügen. Ich konnte nicht anders, Irene. Den Sockel habe ich vergrößert, um mehr Platz zu haben. Ich habe ein Stück unserer rissigen Erde dorthin gesetzt. Und aus diesen Rissen kommt eine kriechende Menschheit in Tiermasken heraus. Männer und Frauen - wie ich sie im Leben gesehen habe“. Wie soll man in dieser Beschwörung der kriechenden Menschheit keine Anspielung auf die desillusionierte Welt des Ibsen’schen Zyklus’ bemerken? Wie in Rubek nicht eine Projektion des Autors sehen? Trotzdem muß man der Versuchung widerstehen, das letzte Theaterstück von Ibsen zu einer Art Autobiographie zu reduzieren. Ibsen, der diese Figuren eines Dichters, der ihm wie ein Bruder ähnelt, inszeniert, macht mehr und anderes als nur ein Selbstbildnis von sich zu zeichnen. Dieser Mann, der die Existenz eines ordentlichen Bürgers führt, erzählt tatsächlich von dem, was das einziges Abenteuer seines Lebens war: das Schreiben. Er setzt seine Anstrengungen, eine Welt zu beschreiben, deren Sinn sich nunmehr enthüllt, in Szene. Aber der Künstler hat noch nicht sein letztes Wort gesprochen: „Höre nun, wie ich mich dort selbst darstellte. Im Vordergrund, neben einer Quelle wie hier, sitzt ein Mann der sich, von einem Schuldgefühl gequält, nicht von der Erdkruste losreißen kann. Es sind Gewissensbisse – die Gewissensbisse eines vergeudeten Lebens.“
Dem vollendeten Werk fügt der Künstler seine Signatur in Form seines Bildnisses hinzu. Er verwandelt sich in eine allegorische Figur. Damit das Werk weiter besteht, muß der Autor als Person verschwinden. Ibsen hat sich immer mehr maskiert – mit den Zügen von Osvald und denen seiner vielzähligen Verwandlungen. Mit Rubek geht er noch weiter: er zeigt uns den Künstler, der sich buchstäblich von seinem Werk verschlingen läßt. Rubek imaginiert sich als eine Person, die vergebens versucht, sich aus dem irdischen Durcheinander zu befreien, während er selbst von Schneemassen verschüttet werden wird. Durch dieses Verlorengehen scheint Ibsen sein eigenes Verschwinden zu inszenieren. Ohne Zweifel war dieses Verschwinden der Preis, den er zu bezahlen hatte, um schließlich dieses unmögliche Werk zu vollenden, von dem er nicht aufhörte zu träumen. Einem Werk, das schließlich alles verschlingen wird.

Übersetzung ins Deutsche von Mareike Uhl

Terje Sinding ist promovierter Theaterwissenschaftler (Dissertation über Ibsen) und Übersetzer von H. Ibsen, J. Fosse, A. Strindberg, M. Dahlström ins Französische.

Die Zitate aus Ibsens Gespenster sind der Neuübersetzung von Angelika Gundlach, Suhrkamp Theaterverlag, entnommen.