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Spielplan


Termine Glas Haus:

05. Februar 2006
05. März 2006
21. Mai 2006
25. Juni 2006

Frankfurter Dialoge - Schimpfwort Moral





/ Vier Sonntage / 15.00 Uhr / Glas Haus

Zum fünften Mal veranstaltet das schauspielfrankfurt die Frankfurter Dialoge. In lockerer Folge werden innerhalb dieser philosophisch eingestimmten Salons aktuelle Herausforderungen der Kultur und deren
ästhetischer Artikulation debattiert. Die Salons wurden bisher von Prof. Jean-Luc Nancy, Prof. Bernhard Waldenfels, Prof. Klaus Theweleit und Prof. Werner Hamacher kuratiert.
In dieser Spielzeit stehen die Frankfurter Dialoge unter dem Titel ›Schimpfwort Moral‹. In den von Prof.Susan Neiman, Direktorin des Einstein Forums Potsdam, geleiteten und moderierten Salons nehmen Persönlichkeiten aus Wissenschaft und Politik Stellung zu aktuellen Aspekten des Begriffes Moral.

/ Salon 1: Philosophen und Moral
/ 5. Februar 2006

/ Gäste: Raimond Gaita (Moralphilosoph / Melbourne, London) und Axel Honneth (Philosoph und Soziologe /
Frankfurt am Main)
/ In englischer Sprache mit Simultanübersetzung

/ Salon 2: Kunst und Wissenschaft: jenseits der Moral?
/ 5. März 2006

/ Gäste: Lorraine Daston (Historikerin, Direktorin am Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte / Berlin)
und Adrienne Goehler (Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds / Berlin)

/ Salon 3: Moral in Amerika
/ 21. Mai 2006

/ Gäste: Robert Pippin (Philosoph / University of Chicago
/ Richard Rorty mußte leider absagen!
/ In englischer Sprache mit Simultanübersetzung

/ Salon 4: Verschiedene Moralvorstellungen
/ 25. Juni 2006

/ Gäste: Eva Illouz (Soziologin / Jerusalem) und Michele Lamont (Soziologin / Harvard University Cambridge)
/ In englischer Sprache mit Simultanübersetzung

In einem Interview über den Umgang mit dem Nationalsozialismus sagte Joachim Fest: »Es ist zu viel Moral dabei.« An dem Tag vor seinem Tod warnte Carl Amery vor einer Moralisierung der Kapitalismus-Debatte.
Bei einem Gespräch über sein jüngstes Buch behauptete Giorgio Agamben in der Berliner Volksbühne, daß Eichmann nicht moralisch, sondern juristisch schuldig war – eine Umkehrung aller bisherigen Gedanken zum
Thema, die nicht etwa von einer Argumentation unterstützt wurden, sehr wohl aber vom tosenden Beifall im ausverkauften Theater.

Die Beispiele sind beliebig. Applaudiert wird zur Zeit in Europa fast jedem, der das Wort ›Moral‹ als Schimpfwort benutzt. Mag sein, daß das Schimpfen einst auf Gründen beruhte – sei es seitens marxistischer Kritiker, die strukturelle statt individuelle Veränderung forderten, sei es seitens der genealogischen Arbeiten von Foucault und anderen, die die machtbildende Kraft der Moral hervorhoben. Geblieben ist weder ein Weiterdenken solcher Positionen noch selbst deren Begründung, sondern lediglich ein Hauch der Verachtung.
Gleichzeitig zeigen Soziologen, daß immer mehr und immer feinere, moralische Grenzen gezogen werden: Auch wenn Wörter wie Gut und Böse verpönt sind, wird Gruppenzugehörigkeit oft von detaillierten Fragen über Integrität, Arbeitsethik und Authentizität bestimmt.

Ziel dieser Gesprächsreihe ist es, die Verachtung des moralischen Diskurses zu verstehen, womöglich sie in Frage zu stellen, denn die Gründe sind so vielfältig wie undurchsichtig. Manche meinen, die Erfahrung des Faschismus sei Ursache der Ablehnung der Moral. Den Kindern der Täter und Mitläufer klang jeder moralische Ton heuchlerisch und hohl. Dies mag eine Rolle in Deutschland, Spanien oder Italien gespielt haben, erklärt
aber nicht, warum eine ähnliche Verachtung der Moral in Frankreich herrscht. Dort, wird behauptet, sorgt die Mißachtung des Bürgerlichen – geteilt von den Adligen bis zu den Arbeitern – für die Schmähung der Moral.
Doch Moral gab es vor dem und ohne Bürgertum, und selbst die Verachtung des Bürgertums wird als moralische Geste betrachtet.

Die Ablehnung der Moral ist nicht überall verbreitet. Wertezerfall wurde seit je von Konservativen beklagt, ob in Potsdam oder Paris. Und in der angelsächsischen Tradition wird Moral meist nur dort als Schimpfwort benutzt, wo europäische Einflüsse prägend waren. Dies gilt nicht nur für die USA, wo die Puritaner ihre Spuren hinterließen, sondern auch für England, wo man unbefangener mit moralischen Begriffen umgeht. Dies ist kein Zeichen des politischen Konservatismus: Auch wenn die Rechten dieser Länder den moralischen Wortschatz beanspruchen, wird er dennoch von den Linken selbstverständlich übernommen. Woher stammen die Unterschiede zwischen diesen sonst so verwandten Kulturen? Die Reihe wird auf engere Sprachräume begrenzt, schließt aber Stimmen ein, die von der Philosophie über die Soziologie bis zur Kunst und Politik reichen.
Prof. Dr. Susan Neiman ist Direktorin des Einstein Forums Potsdam. Sie wurde in Atlanta, Georgia, USA, geboren und studierte Philosophie an der Harvard Universität und der Freien Universität Berlin. Neiman war Professorin für Philosophie an der Yale Universität und der Tel Aviv Universität. Sie ist Autorin u. a. von Slow Fire: Jewish Notes from Berlin (1992), The Unity of Reason: Rereading Kant (1994), Evil in Modern Thought (2002, dt.: Das Böse denken, 2004) und Fremde sehen anders (2005).

Die Frankfurter Dialoge werden dokumentiert und vom Münchner belleville Verlag publiziert.

Dokumentationen der 1. und 2. Frankfurter Dialoge sind an der Kasse und an den Programmhefttischen im schauspielfrankfurt
erhältlich.