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Spielplan

Abb.: Ernst Toller, ca. 1918; Foto (Ausschnitt): nach Prof. Spalek, Bundesarchiv
Abb.: Ernst Toller, ca. 1918; Foto (Ausschnitt): nach Prof. Spalek, Bundesarchiv

Termine Großes Haus:

24. / 29. März 2007
05. / 15. / 18. April 2007
05. / 17. / 25. Mai 2007
03. Juni 2007

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Über Tollers „Hinkemann“

Hinkemann

Über Tollers „Hinkemann“


Bei der Beschäftigung mit der deutschen Dramenliteratur des frühen 20. Jahrhunderts sind wir auf ein Stück gestoßen, das schonungslos und verstörend wie kaum ein anderes nach der Würde des Einzelnen in gesellschaftlichen Zusammenhängen fragt: Ernst Tollers expressionistisches Drama „Hinkemann“. Das Stück unterzieht, ausgehend vom Individuum, alle Ideen zur Schaffung einer gerechten Welt der radikalen Kritik. Gerade in einer utopielosen Zeit wie der unseren, die sich, so scheint es, mit dem massenhaften Elend mangels gesellschaftlicher Alternativen abgefunden hat und sich statt dessen in Gerechtigkeitsappellen ergeht, ist die drastische Beschreibung individuellen Leids in Tollers Stück eine unerhörte Provokation. Das hat uns veranlasst, anstelle von Ödon von Horváths „Kasimir und Karoline“ Tollers „Hinkemann“ auf den Spielplan zu setzen.
Das Stück entstand 1921/22 während einer Festungshaft, die Toller für seine aktive Teilnahme an der Novemberrevolution und seine führende Rolle bei der Errichtung der Münchner Räterepublik verbüßte. In dem Drama zieht Toller kritische Bilanz über den von ihm maßgeblich unterstützten Versuch, die Verhältnisse umzustürzen und eine neue, gerechtere Ordnung zu schaffen. Am Schicksal des kriegsversehrten Eugen Hinkemann konstatiert der Dramatiker, dass alle religiösen Erlösungsideen, ideologischen Erweckungsphantasien oder auch sozialen Utopien nicht zu einer wirklich humanen Gesellschaft führen, wenn individuelles Leid keine Anerkennung findet.
Die Wunde, die Hinkemann im Krieg empfing, stigmatisiert ihn, schließt ihn aus der Gemeinschaft, der Familie, sogar von den intimsten Beziehungen aus, macht ihn zum Außenseiter, zum „homo sacer“, von dem der Philosoph Giorgio Agamben spricht. Er wird zum Menschen, der, von allen sozialen Zusammenhängen exkludiert, im rechtsfreien Raum sein Dasein fristet. Er leidet doppelt: an der physischen Wunde und an einer Gesellschaft, die jede Verantwortung für sein Leiden aufgekündigt hat.
Nicht zuletzt die vor einiger Zeit aufgekommene Unterschichten-Debatte, die durch eine Äußerung des SPD-Politikers Kurt Beck angestoßen wurde, zeugt von der Relevanz des Problems. Längst hat sich die Gesellschaft mit einer sozialen Realität abgefunden, in der Verantwortung, Solidarität oder Mitgefühl Fremdworte geworden sind, in der die (symbolische) Wunde Hinkemanns massenhaft grassiert. Wie Hinkemann, der keine Kraft zum Traum mehr hat, d.h. nicht an eine Veränderung der Verhältnisse glaubt, sehen sich auch viele dem modernen „Prekariat“ zugerechnete Menschen „abgehängt“, ohne Motivation oder Hoffnung, aufzusteigen, am materiellen und kulturellen Kapital der Gesellschaft teilzuhaben. Wer diese Lage als gleichsam natürlich und legitim akzeptiert, hat einen Zustand erreicht, den der Soziologe Pierre Bourdieu mit dem Begriff der „symbolischen Gewalt“ beschreibt. „Symbolische Gewalt spielt sowohl im Alltag der Benachteiligten als auch bei der Verfestigung ihrer Randständigkeit eine wesentliche Rolle. Menschen in Randlagen halten an ihrem Verhalten und Handeln in ihrer Lebenswelt fest, paradoxerweise auch in Situationen, die Verbesserungen und Aufstiege ermöglichen. Handlungschancen werden in der symbolischen Sphäre eingeschränkt und dies verankert und widerspiegelt sich im Habitus (‚wunschloses Unglück’).“ (Franz Schultheis/Kristina Schulz, Hg.: „Gesellschaft mit beschränkter Haftung“. Konstanz 2005)
Von der herrschenden Gesellschaft aufgegeben worden zu sein, ohne sich selbst aufzugeben, das ist die über das Leiden Hinkemanns hinausgehende Forderung, die das Drama stellt. Oder in den Worten Hinkemann-Tollers: „Wer keine Kraft zum Traum hat, hat keine Kraft zum Leben.“
Tollers Stück erregte nach seiner Uraufführung (1923) einen Skandal, der alle bisherigen Theaterskandale der Weimarer Republik in den Schatten stellte. Neben manch bewusst geschürten politischen Provokationen war Ursache hierfür aber wohl vor allem auch die Konfrontation der Zuschauer mit einer Figur, die das Versagen der Gesellschaft gegenüber dem Leid des Einzelnen radikal vor Augen führte. Die „Tragik des Individuums“ wird zur „Tragik der Gesellschaft, in der es lebt.“ (Toller)
Mit der Aufführung wollen wir zugleich an einen Dramatiker erinnern, der, ähnlich wie Georg Büchner, Leben und Werk in den Dienst einer gerechteren Welt stellte und für den Kunst und Politik keine Gegensätze waren, sondern unterschiedliche Möglichkeiten zur Veränderung und Verbesserung der Gesellschaft und jedes Einzelnen. Wir bringen deshalb auf Seite 13 Auszüge aus Tollers 1933 erschienenem Werk „Eine Jugend in Deutschland“ zum Abdruck. Die Texte künden von der die geistigen Unabhängigkeit und politischen Wachheit eines Autors, der fremde wie eigene Irrtümer und Illusionen kritisch aufarbeitete, um sie künftigen Generationen zu ersparen.

Hans-Peter Frings