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Jean Luc Nancy
Jean Luc Nancy

Termine Glas Haus:

26. Mai 2002

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Über die Frankfurter Dialoge />
Veranstaltung vom 28. April 2002 />

Frankfurter Dialoge - Gemeinschaft und Handeln

Zu Gast ist: Etienne Balibar (Philosoph / Paris)
Sonntag, den 26.Mai 2002, 15.00 Uhr




Mit dem Wort „Ethik“ ist das passiert, was für ein Wort das allerschlimmste ist: nämlich ein Slogan oder ein Schlagwort, eine Parole, ein Passepartout zu werden. Das Wort Ethik hat das Wort „Geschichte“ oder „Kampf“ ersetzt, und es hat sich dem Wort „Sprache“ oder auch „Kunst“, „Politik“ oder auch „Begehren“ aufgedrängt. Man gibt zwar vor, es von der Moral zu unterscheiden, aber in den meisten Fällen ist es, um ehrlich zu sein, um es unauffällig zu moralisieren, d.h. um die „Ethik“ als Rückgriff auf Werte und Normen zu denken, wie eine Richtung, die dem Handeln vorgegeben ist. Nun, vorausgesetzt, die Moral ist in der Tat die Ordnung derjenigen Imperative, die dem Handeln vorgegeben sind, dann sollte im Gegensatz dazu die Ethik das Handeln bezeichnen, das sich selbst zur Regel nimmt: eine „Haltung“, ein „Sich(Ver)halten“, ein „Sich-Benehmen“, eine Art, da zu sein und dort zu gehen. Daß es „Werte“ oder „Prinzipien“ gibt, an die man sich halten muß, das zweifelt niemand an. Und doch ist das „Gute“ nie vorhanden (wobei das „Böse“, im Gegenteil jedoch, immer zur Hand ist). Das „Gute“ muß immer wieder erfunden werden. Es muß sich in der Erfindung (auf)halten, in ihrer Öffnung und in ihrer Entscheidung – das könnte das „Ethos“ (Handeln, Verhalten, Erscheinen) sein. (Ein einfaches Beispiel: die „sexuelle Befreiung“ stellt die Verbote um, verbiegt die Prinzipien, ändert die Moral. Macht das eine sexuelle Ethik aus? Das heißt, eine Sinn-Erfindung?)

Ethik läßt sich nicht von dem „Gemein-Sein“ trennen, man handelt gegen jemanden oder mit jemandem. Die Moral ist die Ordnung derjenigen Prinzipien, die einer Gemeinschaft gegeben sind, und die diese wiedererkennt. Die Ethik – oder im hegelschen Wortschatz die „Sittlichkeit“ – ist das „Gemein-Sein“ oder das „Mit-Sein“, das in der Erfindung – in seiner eigenen Erfindung – begriffen ist. Wenn die Gemeinschaft uns nicht mehr gegeben ist (weder Sippe, weder Nation noch Volk), wenn die Menschheit zur ‚Welt’-Menschheit wird (sich globalisiert), ohne deswegen eine planetarische Gemeinschaft zu erzeugen, welche Ethik soll die Ethik des Globalen sein: das Handeln aller gegenüber allen, die Wiedererfindung der Gruppen, der Beziehungen und Nicht-Beziehungen?
Warum wird die Moral der abgezirkelten Gruppen in Europa heute gegen die Ethik des „Mit-Lebens“ ausgespielt? Warum erscheint Europa als Markt und nicht als eine Ethik?

Partner der Frankfurter Dialoge: NIL
Mit freundlicher Unterstützung des Institut Français für Frankfurt und Hessen

Professor Dr. Etienne Balibar,
geboren 1942 in Avallon (Frankreich), ist ehemaliger Schüler der École Normale Supérieure und Doktor der Philosophie und Komparatistik. Seit 1994 lehrt er politische Philosophie und Moralphilosophie an der Universität Paris-X Nanterre. 2000 wurde er zum Professor der kritischen Philosophie ernannt und ist seither Gastprofessor für Humanwissenschaft an der University of California in Irvine. Er ist Co-Direktor der Reihen „Praktische Theorie“ des Universitätsverlags „Presses Universitaires de France“ und publizierte eine Vielzahl von Büchern, Aufsätzen und Artikel über politische und anthropologische Philosophie sowie über den Marxismus. Sein derzeitiger Forschungsschwerpunkt umfaßt Zivilität, Herrschaft und Subjektivierung. In seinen zahlreichen, auch internationalen Publikationen diskutiert er Fragen wie das Voranschreiten des Rassismus und des Nationalismus, die Krise des Staatssozialismus und dessen Zusammenbruch, Ausgrenzung und Ungleichheit, sowie kulturelle Bewegungen, neue Dimensionen der Bürgerrechte und Staatsbürgerschaft. In deutscher Sprache liegen vor: Die Grenzen der Demokratie, Argument, Hamburg 1993 / Freiheit und Notwendigkeit, Königshausen & Neumann, Würzburg 1994 / Rasse, Klasse, Nation. Ambivalente Identitäten, Argument, Hamburg 1998.