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Spielplan



Tierreich

Die Meister des Wartens in: Theaterheute, Jahrbuch 2003


Die Meister des Wartens
Von Laura Olivi

Bilijana Srbljanovic macht uns mit ihrem neuen Stück „Das Tierreich“ zu Zeugen eines allgegenwärtigen Experiments. Ein Experiment, das nicht in Labors mit Versuchsratten und Mäusen stattfindet, das keine Versuchsleiter erdacht hat, bei dem keine Konzeption vorhanden ist und keine ordnende, wissende Hand einschreiten kann. Das Forschungsvorhaben, das die Belgrader Autorin durchführt, ist eine Menschenstudie weltweiten Ausmaßes. Ganze Länder, Staaten und halbe Kontinente sind daran beteiligt, ob Serbien, Rußland, Afghanistan oder der Irak.
Hatte die Autorin schon währen der Nato-Angriffe auf Serbien mit ihrem eindringlichen Kriegstagebuch der jungen regimekritischen Generation ihres Landes internationales Gehört verschafft, seziert sie nun, einige Jahre später, den Seelenzustand einer nachgewachsenen „neuen“ Jugend, die unter neuen gesellschaftlichen, ökonomischen und politischen Bedingungen aufgewachsen ist. Damals, vor beinahe fünf Jahren, schrieb die Autorin noch in „Theater heute“: „Jeder Wechsel in Belgrad kann nur von jungen Leuten ausgehen.“ Heute zeichnet Srbljanovic ein eher pessimistischeres Bild.
Das Geschehen, das an so vielen Plätzen dieser Welt geortet werden könnte, konkretisiert sich in der Peripherie einer Großstadt im ehemaligen Jugoslawien, nach dem Zusammenbruch einer Diktatur, dem Zerfall der Strukturen. In einem jener Länder nach dem Krieg, weit entfernt von einem geordneten, sozial ausgewogenen Kapitalismus, die hilflos in einer Übergangszeit taumeln. Die staatseigenen Unternehmen befinden sich am Rande des Bankrotts, nichts funktioniert mehr, halblegale Kaufleute kaufen auf, was geht, ein „Elite“ bereichert sich schamlos, Massenarbeitslosigkeit, Verelendung ganzer Bevölkerungsschichten sind die Folgen. Ein langer, schmerzlicher Weg für jedes Land, das ein Teil Europas oder der westlichen Welt werden will.
Exemplarisch für die Abermillionen Teilnehmer der Sozio-Studie steht eine kleine Freundesgruppe von 17-, 18-jährigen, die wie ihr Land in der verwahrlosten Umgebung ihres Vorstadtviertels verwahrlost. Denn die Versuchsbedingungen schaffen eine Atmosphäre des schleichenden Zerfalls, die in jede Pore der Übergangskinder dringt, die wie ihr Land hilflos in einer nicht begrenzten Übergangszeit taumeln.
Die Charaktere sind austauschbar, klischeehaft gezeichnet, Stereotypen. Von jedem ist etwas dabei: Natascha, eine rebellische Jugendliche, in der Gruppe nicht sehr beliebt. Ana, ihre beste Freundin, Lokalschönheit und in sexuellen Dingen eher großzügig. Die fettleibige Debela, süchtig nach Junkfood, aus neureicher Familie stammend; ihr Zwillingsbruder Vlada, gutaussehend und oberflächlich; Mane, langsam und in der Entwicklung eher zurückgeblieben. Und da ist Maria. Obwohl sie in dem häßlichen Hochhaus lebt, ist sie die Fremde, seltsam, schweigsam, omnipräsent.
Die Versuchsanordnung beginnt mit dem üblichen Spiel: Es ist Nacht, und die Kids machen einen Wettkampf. Wer kann den Marihuana-Rauch am längsten in der Lunge behalten? Fast jede Nacht sind sie da, legen ihr gewohntes Leben ab: kämpfen, rauchen, trinken, ein wenig Schule, mehr Sex, und einfach dasitzen und rumhängen. Sie wollen überleben, bis das richtige Leben anfängt. Die jungen Menschen dieser Übergangszeit von der kommunistischen Armut zur kapitalistischen Armut sind Experten des Pläneschmiedens und -verwerfens.
Sie sind Spezialisten der Langeweile und Leere. Sie sind regelrechte Meister des Wartens. Sie warten darauf, dass etwas passiert, dass das Leben beginnt. Und mittlerweile sind sie und ihre Übergangszeit überflutet vom Stillstand.
Was tun wir? Nichts. – Wir warten. Auf was? Sogar den Glauben an Godot gibt es nicht mehr.
Das kann nicht gut gehen. Das erbärmliche Warten, die erdrückende Perspektivlosigkeit lassen das Übel in den Köpfen wachsen. Irgendwann gibt es keine Halt und keine Stütze der Gruppe mehr. Im emotionalen Niemandsland der Hoffnungslosigkeit schleicht sich das Tierreich ein. Da hilft kein noch so lauter Weckruf und kein Wachrütteln mehr. Die Studie über Gruppenverhalten nimmt ihren unausweichlichen Lauf. Schlag nach bei Konrad Lorenz: „Das sogenannte Böse“.