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Spielplan


Termine Großes Haus:

10. / 11. / 12. Oktober 2003
06. / 07. / 08. November 2003
21. / 22. Februar 2004
10. / 18. März 2004

Termine Bockenheimer Depot:

13. / 14. / 15. Dezember 2003

India Song

von Wanda Golonka nach Marguerite Duras
Großes Haus
Dauer 1,15 h

Inszenierung: Wanda Golonka


INDIA SONG von Wanda Golonka nach Marguerite Duras ist eine Neubearbeitung des Stücks, das im November 2000 am Marstall/ Bayerisches Staatsschauspiel in München uraufgeführt wurde. INDIA SONG am schauspielfrankfurt erfolgt mit einer neuen Komposition von Catherine Milliken, sowie einer neuen darstellerischen und musikalischen Besetzung.




ES WAR ABGEMACHT UNTER DEN LIEBENDEN VOM GANGES DASS SIE SICH DIE FREIHEIT LIESSEN ZU HANDELN, WENN DER EINE ODER ANDERE ES FÜR RICHTIG HIELT, ZU... (India Song)


»Der Europäer stellt sich ständig vor die Alternative: ja oder nein; der Hindu lebt in der Ambivalenz: ja und nein.«

(Jean Grenier, »Über Indien«)

»India Song« ist ein Erfahrungsraum. Es erzählt keine Geschichte, sondern beinhaltet mögliche Geschichten. Erinnern und Vergessen halten die Dinge in der Schwebe – auch die Erinnerung an das, was nicht geschehen ist, was nicht eintrifft: Imagination, zerstörend und produktiv. Alles bewegt sich im Bereich des Möglichen und Vorstellbaren und läuft »Gefahr, sich zu verlieren«.

Marguerite Duras hat »India Song« als Text, Theater und Film konzipiert und darin ein Inventar von Figuren ihrer vorausgegangenen Prosawerke erinnert. Der Komplex kreist um Leere, Verzweiflung, Schuld und eine Erwartung, der nichts im anderen entspricht. Er schildert den Zustand einer Kolonialgesellschaft im goldenen Käfig.

Diesem Zustand ist der Einzelne ausgesetzt. Alle sehen zu, aber nichts ändert sich.

„Je suis à Venise pour inventer calcutta, une apothéose du nombre.“ (Duras)


»India Song«

Allgemeine Anmerkungen von Marguerite Duras:

„Die Namen der Städte, Flüsse, Staaten, Meere in Indien haben hier vor allem eine musikalische Bedeutung.

Alle geographischen, materiellen, menschlichen, politischen Hinweise in INDIA SONG sind falsch:

So kann man zum Beispiel nicht in einem Nachmittag mit dem Auto von Kalkutta bis zur Ganges-Mündung oder nach Nepal fahren.

Ebenso befindet sich das Hotel Prince of Wales nicht auf einer Insel im Delta, sondern in Colombo.

Und ebenso ist die Verwaltungshauptstadt Indiens nicht Kalkutta, sondern Neu-Dehli. Usw.

Die in dieser Geschichte erwähnten Personen stammen aus dem Buch „Der Vizekonsul“ und werden hier in neue erzählerische Regionen projiziert. Man kann sie also nicht wieder in das Buch zurückversetzen und INDIA SONG als filmische oder theatralische Version des „Vizekonsuls“ lesen. Auch wenn eine Episode aus dem Buch fast vollständig hier aufgegriffen ist, so verändert ihr Stellenwert in diesem neuen Text das Verständnis.

In Wirklichkeit entstand INDIA SONG als Folge von „La Femme du Gange“. Wäre „La Femme du Gange“ nicht geschrieben worden, wäre INDIA SONG nicht entstanden.

Die Tatsache, daß INDIA SONG eine im „Vizekonsul“ nicht gedeuteten Bereich durchdringt und bloßlegt, wäre kein ausreichender Grund für das Schreiben des Textes gewesen.

Ein Grund war hingegen die Entdeckung der Methode der Aufdeckung, wie sie in „La Femme du Gange“ zur Anwendung kam: die außerhalb der Erzählung stehenden Stimmen. Diese Entdeckung hat es erlaubt, die Erzählung ins Vergessen eintauchen zu lassen – um sie anderen Erinnerungen als denen des Autors zur Verfügung zu stellen: Erinnerungen, die sich ähnlich irgendeiner anderen Liebesgeschichte so erinnern würden. Deformierenden, kreativen Erinnerungen ....

Manche Stimmen aus „La Femme du Gange“ sind hier an andere Stellen gerückt worden. Und ebenso manche ihrer Aussagen.
Das ist ziemlich alles, was man möglicherweise dazu sagen kann. ....


»India Song«

»Es ist die Geschichte einer Liebe im Indien der 30er Jahre. Zwei Tage im Sommermonsun. STIMMEN, vier an der Zahl, sprechen von dieser Geschichte. Die STIMMEN richten sich nicht an den Zuschauer. Sie sind vollkommen eigenständig. Sie sprechen untereinander und wissen nicht, dass man Ihnen zuhört.
Die STIMMEN kennen die Geschichte dieser Liebe. Einige erinnern sich besser an sie als andere. Aber keine erinnert sie ganz, keine hat sie vollständig vergessen. Man weiß nicht, wer diese STIMMEN sind. Unterscheidern lassen sie sich einzig und allein an ihrer jeweiligen Art, vergessen zu haben oder sich zu erinnern.
Die Liebesgeschichte ist auf dem Höhepunkt der Leidenschaft erstarrt. Um sie herum das Grauen – Hungersnot und Lepra in der stinkenden Feuchte des Monsuns. Inmitten dieses Grauens behauptet sich die Geschichte mit einer Anmut, in der alles in einem unerschöpflichen Schweigen verkommt. Eine Anmut, die die STIMMEN genau wieder zu sehen versuchen, eine poröse und gefährliche Anmut.
Die Frau, einst Ehefrau des französischen Botschafters, ist bereits gestorben. Neben dieser Frau ein Mann, der Vizekonsul von Frankreich, der in Kalkutta unliebsam geworden ist. Er reagiert auf das indische Grauen mit Zorn und Mord. Ein Empfang in der französischen Botschaft – wo der verrufene Vizekonsul seine Liebe zu der Frau schreiend bekennt. Nach dem Empfang begibt sie sich über die geraden Wege des Deltas auf die Inseln der Mündung.«

(Marguerite Duras, »India Song«)


aus: Marguerite Duras »Schreiben«, Frankfurt/Main 1994

Ich war allein. Ich wartete in dieser Kammer. Ich bleibe oft so allein an ruhigen, leeren Orten. Lange. Und in dieser Stille, an diesem Tag, habe ich plötzlich ganz nahe bei mir an der Wand die letzten Minuten des Lebens einer gewöhnlichen Fliege gesehen und gehört.
Ich habe mich auf den Boden gesetzt, um sie nicht zu erschrecken. Ich habe mich nicht mehr gerührt.
Ich war allein mit ihr in der ganzen Weite des Hauses. Bis dahin hatte ich nie an die Fliegen gedacht, außer zweifellos, um sie zu verfluchen. Wie Sie. Ich bin wie Sie aufgezogen worden im Abscheu vor der Geißel dieser Welt, die Pest und Cholera mit sich brachte.
Ich bin näher hingegangen, um ihr beim Sterben zuzuschauen.
Sie wollte der Wand entkommen, wo sie Gefahr lief, in Sand und Zement hängen zu bleiben, die sich mit der Feuchtigkeit des Parks auf der Wand absetzten. Ich habe zugeschaut, wie so eine Fliege stirbt. Es hat lang gedauert. Sie wehrte sich noch gegen den Tod. Es hat vielleicht zwischen zehn und fünfzehn Minuten gedauert, und dann hat es aufgehört. Ich bin geblieben, um noch zu schauen. Ich irrte mich: sie war noch lebendig. Ich habe sie angeschaut in der Hoffnung, sie würde wieder anfangen zu hoffen, zu leben.
Meine Anwesenheit machte diesen Tod noch furchtbarer. Ich wusste es und bin geblieben. Um zu sehen. Zu sehen, wie dieser Tod die Fliege allmählich überwältigte. Und auch um zu versuchen zu sehen, woher dieser Tod käme. Von draußen oder aus der Dicke der Mauer oder aus dem Boden. Aus " welcher Nacht er käme, von der Erde oder vom Himmel, aus den nahen Wäldern oder aus einem noch unbenennbaren, vielleicht sehr nahen Nichts, vielleicht von mir, die ich versuchte, die Wege der Fliege wiederzufinden, die dabei war, in die Ewigkeit einzugehen.
Das Ende weiß ich nicht mehr. Wahrscheinlich ist die Fliege erschöpft herabgefallen. Ich weiß nichts mehr, außer dass ich von dort weggegangen bin. Ich habe zu mir gesagt: »Du bist im Begriff, verrückt zu werden.« Und ich bin von dort weggegangen.
Der Tod einer Fliege, das ist der Tod. Das ist der Tod unterwegs auf ein gewisses Ende der Welt zu, wo sich das Gefilde des letzten Schlafes erstreckt. Man sieht einen Hund sterben, man sieht ein Pferd sterben, und man sagt etwas, zum Beispiel, armes Tier ... Aber wenn eine Fliege stirbt, sagt man nichts, man notiert es nicht, nichts.
Jetzt ist es aufgeschrieben.
Es ist auch gut so, wenn das Geschriebene dahin führt, zu dieser Fliege da im Todeskampf, ich meine: das Grauen des Schreibens aufzuschreiben. Die genaue Stunde des Todes festzuhalten macht die Fliege schon unerreichbar. Das gab ihr eine Bedeutung allgemeiner Art, sagen wir, einen bestimmten Platz auf der allgemeinen Karte des Lebens auf der Erde. Nie hatte ich den Tod dieser Fliege erzählt, die Dauer, die Langsamkeit, die furchtbare Angst, die Wahrheit.
Die genaue Angabe der Todesstunde verweist auf die Koexistenz mit dem Menschen, mit den kolonialisierten Völkern, mit der sagenhaften Masse der Unbekannten auf der Welt, den Leuten, die allein sind, denjenigen der universellen Einsamkeit. Das Leben ist überall. Von der Bakterie bis zum Elefanten. Von der Erde bis zu den göttlichen oder schon toten Himmeln.
Ich hatte nichts um den Tod der Fliege herum veranstaltet. Die weißen glatten Wände, ihr Leichentuch, waren schon da, und damit war ihr Tod ein normales und unvermeidliches öffentliches Ereignis geworden. Diese Fliege war offensichtlich am Ende ihres Lebens. So verhielt es sich, und ich wusste auch, dass man nicht erzählen kann, dass diese Fliege existiert hat.
Was ich auch noch wusste - was ich sah, war, dass die Fliege schon wusste, dass dieses Eis, das durch sie hindurchging, der Tod war. Das war das Erschreckendste. Das Unerwartetste. Sie wusste es. Und sie akzeptierte es. In dem Augenblick, da ich sie anschaute, war es plötzlich zwanzig nach drei am Nachmittag: das Geräusch der Flügel hat aufgehört.
Die Fliege war tot.
Diese Königin. Schwarz und blau.
Die, die ich gesehen hatte, sie war gestorben. Langsam. Sie hatte gekämpft bis zum letzten Zucken. Und dann hatte sie nachgegeben. Das hat vielleicht fünf bis acht Minuten gedauert. Es war lang gewesen. Es war ein Augenblick absoluten Schreckens. Und es war der Aufbruch des Todes zu anderen Himmeln, anderen Planeten, anderen Orten.
Man schreibt, indem man einer Fliege beim Sterben zusieht.
Alles schreibt um uns herum, das gilt es wahrzunehmen, alles schreibt, die Fliege, sie schreibt an den Wänden, sie hat viel geschrieben im Licht des großen Zimmers, das sich im Weiher bricht.
Über die Geschichte von der Fliege möchte ich gern noch etwas mehr sagen. Ich sehe sie noch, die Fliege, wie sie stirbt auf der weißen Wand. Zuerst im Sonnenlicht und dann im gebrochenen düsteren Licht des Fliesenbodens. Man kann auch nicht schreiben, eine Fliege vergessen. Sie nur betrachten. Sehen, wie sie sich wehrte, auf schreckliche und in einem unbekannten, unbedeutenden Himmel vermerkte Weise.
Das ist alles.
Ich werde über nichts sprechen.
Über nichts.

Mit freundlicher Genehmigung des Suhrkamp Verlags




Es ist die Geschichte einer Liebe im Indien der 30er Jahre. Zwei Tage im Sommermonsun. Es sind Stimmen, die über diese Geschichte der Leidenschaft sprechen. Sie sprechen untereinander und wissen nicht, daß man ihnen zuhört. Sie kreisen um Verzweiflung, Schuld und ein Verlangen, dem nichts im anderen entspricht. Fremde ohne Heimat. Und vor der Tür die Massen Indiens. Alle sehen zu, doch nichts ändert sich.
India Song von Wanda Golonka ist ein Stück Theater, Raum, Zeit, Tanz, Ton, Text und Licht, nach India Song von Marguerite Duras, und beschreibt einen Erfahrungsraum, der mögliche Geschichten beinhaltet. Erinnern und Vergessen halten die Dinge in der Schwebe - auch die Erinnerung an das, was nicht geschehen ist und was nicht eintrifft. Imagination - zerstörend und produktiv. Alles bewegt sich im Bereich des Möglichen und läuft doch Gefahr, sich zu verlieren.