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Spielplan


Termine schmidtstrasse12:

18. / 19. / 27. September 2003
16. / 24. / 30. Oktober 2003
01. / 13. / 29. November 2003
06. / 20. Dezember 2003
09. Januar 2004
05. / 27. Februar 2004
06. / 27. März 2004
30. April 2004
15. Mai 2004
04. Juni 2004

Minna von Barnhelm

nach Gotthold Ephraim Lessing / Premiere: 18. September 2003 / schmidtstrasse12
Dauer 1,15 h

Inszenierung: Armin Petras; Bühne: Susanne Schuboth; Kostüme: Susanne Schuboth; Musik: Olaf Casimir; Dramaturgie: Claus Caesar; Darsteller: Susanne Buchenberger, Olaf Casimir, Özgür Karadeniz, Oliver Kraushaar, Abak Safaei-Rad


Aus der Armee entlassen und pleite, hat sich Major Tellheim in eine Absteige zurückgezogen. Nun soll er sein Zimmer räumen: Der Wirt erwartet weibliche Kundschaft. Um zu Geld zu kommen, beauftragt Tellheim seinen Diener, einen kostbaren Ring zu verkaufen. Als das Schmuckstück der angekommenen Minna von Barnhelm angeboten wird, erkennt sie ihren Verlobungsring und glaubt sich am Ziel ihrer Sehnsüchte. Während des Krieges hatte sie sich mit Tellheim verlobt, ihn aus den Augen verloren, und seither ist sie auf der Suche nach dem Geliebten. Doch die Erlebnisse mit der Armee haben den Major zu stark mitgenommen, als daß er bruchlos das bürgerliche Eheglück anstreben würde. Indessen kommen sich Minnas Untergebene Franziska und Tellheims Getreuer Paul Werner zwanglos näher..

Warum heute heute Lessing spielen?
von Claus Caesar
Zunächst sehen einen Freunde und Kollegen ratlos an. Seltsame Frage. Dann die ersten Antworten, meist pragmatischer Natur. Weil "Nathan der Weise", "Miss Sara Sampson" oder "Emilia Galotti" gute Stücke sind und wunderbare Rollen für das Ensemble bieten. Selbstverständlich. Weil es Titel sind, mit denen sich die großen Häuser noch füllen lassen, und die deshalb eine gewisse Planungssicherheit und Mischkalkulation innerhalb des Spielplans möglich machen. Natürlich. Weil die produktive Pflege der Klassiker zum Bildungsauftrag eines mit öffentlichen Geldern subventionierten Stadt- oder Staatstheaters gehört. Unbedingt. Weil das ein oder andere Stück mit diesem oder jenem Spielzeitthema korrespondiert. Versteht sich. Warum dann aber nicht Schiller, Kleist, Shakespeare oder Goethe, für die alle diese Argumente gleichfalls gelten? Warum Lessing?


In seiner Inszenierung der "Minna von Barnhelm" in der schmidtstrasse12 des schauspielfrankfurt hat Armin Petras die Handlung in einem qua Bühne und Requisiten zeichenhaft behaupteten Amerika der 60er Jahre angesiedelt. Die Schauspieler sitzen anfangs in fünf Stühlen auf der Bühne, die für sie im weiteren Verlauf des Abends Ruhe- und Spielort zugleich bleiben werden. Minna ist ein koksendes Hippiemädchen auf der Flucht, Franziska ihre Malcom X lesende, bürgerrechtsbewegte und sich prostituierende Freundin mit Angela Davis-Perücke. Tellheim erscheint als traumatisierter Vietnamveteran, ebenso wie Just/Paul Werner – ihre Figuren wurden zusammengelegt –, der sich daueralkoholisiert stets am Rande der emotionalen Explosion aufhält, während sich der Wirt als desillusionierter Spätfreak erweist, der Fische schon einmal mit dem Föhn grillt und unter allen Umständen auf seinen Vorteil bedacht ist. Die emotional am stärksten angereicherten Momente der Figuren finden Entladung in Madonna-Songs, live mit dem Kontrabass begleitet. Am Ende wird das komplet-te Personal vom blinden Musiker erschossen. Rund zwei Drittel des Textes sind gestrichen, darüber hinaus verändert der Abend zentrale Elemente des Plots oder reißt sie nur an. So das Motiv der Ehre: Der Brief des Majors an Minna ist ein Videotape mit Kriegsszenen, die sein Trauma und damit die Unmöglichkeit einer gemeinsamen Verbindung erklären. So das Motiv der Ringintrige: Minna bringt sie zwar stückgemäß in Gang, sie wird aber nicht mehr aufgelöst, weil die interpretatorische Entscheidung fiel, die bei Lessing bekanntermaßen nur vorgetäuschte Geschichte ihrer Enterbung wörtlich zu verstehen und ernst zu nehmen. So das Motiv der Geldnot am Schluss: Wenn Tellheim von Paul Werner Geld fordert, löst dieser das Problem nicht dadurch, dass er vorzeitig die Verkaufssumme seines Gutes abholt, sondern durch Raubmord am Wirt. Häufig begeistert, bisweilen kopfschüttelnd gehen die Zuschauer nach der Vorstellung im Erfrischungsbereich hinter der Tribüne noch ein Bier trinken.



Das liest sich erst einmal wie eine freihändige Trash-Variante der "Minna von Barnhelm". Nichts gegen Trash, doch hier liegen die Dinge anders. Meiner Meinung nach lässt sich, ausgehend von Armin Petras" "Minna", zeigen, warum es andere als lediglich pragmatische Gründe geben könnte, heute Lessing zu spielen. Damit rekurriere ich nicht auf spezifische Ästhetiken oder Spielweisen, sondern plädiere für eine bestimmte strukturelle Lesart seiner Stücke, die sich zugleich des Orts – heute – bewusst bleibt, von dem aus sie erfolgt. Es ist dies ein – gesellschaftlicher, historischer, politischer – Ort, an dem zwar auf verschiedenste Art und Weise, aber immer drängender die Frage gestellt wird, "ob sich die Gesellschaften des 21. Jahrhunderts noch mit den Konzepten des 19. und 20. Jahrhunderts begreifen lassen" (Ulrich Beck). "Wer kann denn in den verzweifelten großen Städten schlafen?", fragt Franziska zu Beginn des zweiten Aktes der "Minna von Barnhelm". An den Lärm, der die beiden Landpomeranzen Minna und Franziska so früh wach werden lässt, haben sich heutige Städtebewohner zwar gewöhnt. Gewichen ist ihre Verzweiflung indes nicht, im Gegenteil. Sie hat sich nur gewandelt, und das Chaos kommt heute weniger akustisch als vielmehr ökonomisch und metaphysisch daher. Denn nicht nur die Bindekraft der großen Erzählungen – etwa die Geschichte vom ständigen Fortschritt – ist seit längerem erschöpft. Auch die Hoffnung auf postmoderne Gelassenheit scheint erledigt, nicht zuletzt aufgrund der neuen wirtschaftlichen Unsicherheiten, die längst die bürgerliche Mitte erreicht haben. Die selektive Wahrnehmung funktioniert nicht mehr. "Die Entzauberung der Welt greift auf die Grundlagen der Moderne selbst über und stellt jene Momente in Frage, die lange Zeit als Selbstverständlichkeiten moderner Gesellschaften begriffen wurden" (noch einmal Ulrich Beck). Nach der postmodernen Feier von Differenz und Spiel macht sich mittlerweile nicht mehr nur auf konservativer Seite ein Unbehagen breit, das neue Werte, Bindungen und Normen einfordert. Und in den Warnungen vor einer – sozialen, moralischen, politischen – Erosion der Gesellschaft kehrt zugleich der Eurozentrismus zu sich selbst zurück. Kaum gewagt, wendet sich der Blick auf den Anderen um auf das Eigene; eine Bewegung, die als Symptom des Verlusts der Sicherheiten fungiert.



Ob man solchen Beschreibungen nun en détail zustimmt oder nicht: Was sich einstellt, ist der Eindruck, an einer Schwelle zu leben. Mit anderen Vorzeichen versehen, gilt dies strukturell auch für die historische Situation Lessings. Während er einerseits theatergeschichtlich mit "Miss Sara Sampson", dem ersten bürgerlichen Trauerspiel, oder seiner Dramaturgie des Mitleids Neuland betrat, zeigt die Geschichte des Bürgertums, dass seine Stücke am Vorabend einer Umbruchsituation entstanden, jenes Prozesses, der, beginnend mit der Französischen Revolution, den Übergang vom traditionalen Stadtbürgertum am Ausgang des 18. Jahrhunderts hin zum modernen Bürgertum bezeichnet, verbunden mit der Genese bürgerlicher Öffentlichkeit. Wenn das Theater damals zur Selbstbefragungs- und Selbstvergewisserungsanstalt dieser entstehenden Öffentlichkeit wurde – die Gründung des Hamburgischen Nationaltheaters mit Lessing als Dramaturgen ist darunter zu verbuchen –, dann ermöglicht der Blick auf Lessings Stücke paradigmatisch einen Blick auf Werte und Normen des sich allmählich neu formierenden modernen Bürgertums. Welche bis heute fortwirken: Was in Lessings Stücken an utopisch markierten Momenten aufscheint – die Familie etwa, die in der "Minna von Barnhelm" "zur Stätte reiner Menschlichkeit verklärt wird" (Peter Szondi), oder das Ideal einer allumfassenden Humanität in "Nathan dem Weisen", sind nach wie vor Aspekte, die als zu re-installierende Werte innerhalb des politischen Diskurses fungieren. Gleichzeitig sind Lessings Vorstellungen von der ethischen, aufklärerischen Kraft des Theaters, auch wenn er in späteren Jahren zweifelte, und auch wenn sie mittlerweile anders formuliert werden, bis heute als Wunsch in den Diskussionen um Ort und Funktion des Theaters in der Gesellschaft präsent.



Lessing heute aus anderen als pragmatischen Gründen auf den Spielplan zu setzen, könnte dann erstens meinen: Die in seinen Stücken formulierten (bürgerlichen) Werte und Ideale erneut in Anschlag zu bringen, im Vertrauen auf ein aufklärerisches Potential der Bühne und als Einsatz gegen die konstatierte Diffusion von Gemeinschaftlichkeit. Die Texte dekuvrierend gegen den Strich zu lesen oder zu ironisieren, wäre eine zweite Möglichkeit: Zeigen, dass die Ringparabel heute politisch naiv ist, vorführen, dass die Familie immer auch als Ort der Repression fungiert. Demgegenüber plädiere ich für eine Übersetzung seiner Stücke. Im Unterschied zu den Begriffen der Aktualisierung oder Modernisierung, die immer den Transfer in nur eine Richtung konnotieren, meint Übersetzung eine immanente Lektüre, die Situationen und Semantik in andere Vorstellungsräume transferiert, um den Text gerade in dieser Verschiebung zu bewahren. "Keine Übersetzung [wäre] möglich, wenn sie Ähnlichkeit mit dem Original ihrem letzten Wesen nach anstreben dürfte. Denn in seinem Fortleben, das so nicht heißen dürfte, wenn es nicht Wandlung und Erneuerung des Lebendigen wäre, ändert sich das Original. Es gibt eine Nachreife auch der festgelegten Worte. Was zur Zeit eines Autors Tendenz der dichterischen Sprache gewesen sein mag, kann später erledigt sein, immanente Tendenzen vermögen neu aus dem Geformten sich zu erheben." (Walter Benjamin). Die Lektüre richtet den Blick so eher auf marginalisierte Kontexte im Stück selbst, als auf das vermeintlich Selbstverständliche. Es geht ihr eher um die Konnotationen, als um die Denotationen, mit dem Ziel – so unmöglich das zugleich ist – das Zeitgenössische eines Autors zu restituieren, seinen Stücken eine – auch soziale – Schärfe wiederzugeben, die häufig unter der langen Rezeptionsgeschichte begraben liegt.

Nun beschreibt dies einen Weg, sich vieler der klassischen Stücke zu nähern. Im Fall von Lessing könnte eine solche Lektüre die Perspektive wechseln: Statt ihrer Funktion bei der Konstruktion von Bürgertum nachzugehen, wären seine Stücke dazu zu befragen, was sie über dessen mögliche De-Konstruktion erzählen, über das, was uns heute erwartet. Statt auf die ins Bürgertum hinführenden Momente wären sie auf ihr Potential der von ihm wegführenden Aspekte zu befragen – deshalb die Verschiebungen hinsichtlich Bürgerrechtsbewegung und Hippiekultur in der Frankfurter "Minna". Statt der Verklärung oder Kritik von Gefühlen oder familiären Strukturen rückte ihre Ökonomisierung ins Blickfeld – deshalb der Akzent auf die Prostitution und die finanzielle Not, zugleich der Versuch, die Figuren sozial zu erden. Auch der Fokus auf Vietnamkrieg und die späten 60er Jahre Amerikas ist kein Selbstzweck, sondern ruft neben einem reichen, durch Filme angelegten Bilderreservoir als Assoziationsraum für die Phantasien des Publikums auch eine Zeit auf, in der mit gegenkulturellen, antibürgerlichen Bewegungen, anders als heute, große gesellschaftliche Hoffnungen verbunden waren. Deren Scheitern bzw. deren Transformation kann dann miterzählt werden – dies alles von Lessing aus, aber nicht als freudiger Abschied, sondern durchaus als innehaltendes Betrachten dessen, was allmählich aus dem Blick schwindet und ohne Gewissheit dessen, was kommt.