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Spielplan



SZ-Kritik von der Premiere in Straßburg





GEISTERSTUNDE

Stéphane Braunschweig inszeniert in Straßburg Ibsens „Gespenster“

Die Frankfurter Theatergänger können sich freuen. Denn sie werden im Januar in ihrem Schauspielhaus eine faszinierende Inszenierung von Ibsens „Gespenster“-Drama erleben. Stéphane Braunschweig, Intendant des Théâtre National von Straßburg, präsentierte die deutschsprachige Coproduktion zunächst auf seiner Bühne – und wurde gefeiert. Dabei ist diese Aufführung keineswegs spektakulär. Braunschweig hat den Text nicht bearbeitet; die Handlung nicht ins 21. Jahrhundert verlegt. Er benutzt nicht Video, nicht Film, nicht Musik. Er vertaut allein der Sprache und der Stille, die verrät, was zu sagen ungeheuerlich wäre. Er kann sich verlassen auf Schauspieler, die seinem Konzept vertrauen.
Einen schlichten hohen dunklen Wohnraum hat der Regisseur entworfen; einen, der Verstecken unmöglich macht. Es gibt in diesem Haus mit seinen schwarzen Holzbohlen keine gebauten Innenwände, durchsichtige Gaze trennt die seitlichen Flure von den zwei Zimmern. Wer auftritt, ist schon da, bevor er wirklich im Spiel ist. Wer sich verabschiedet, bleibt anwesend. Bleibt Gespenst. Braunschweig, der sich stets als kluger Interpret und genauer Leser erwiesen hat, lässt sich leiten von dem Titel des Dramas. Er heißt im Französischen „Les Revenants“, die Wiederkehrer. Die Wiedergänger.
Helene Alving, die Frau, die von ihrem Mann ein Leben lang betrogen wurde und in den drei Akten sich und den anderen Rechenschaft ablegt über ein verpfuschtes Leben, in dem immer Selbstbetrug und die Lüge siegten, sie ist das Zentrum. Weil nur sie erkennt, dass in ihrem Haus, aus dem sie willentlich die Lebensfreude ausgesperrt hatte, die Gespenster der Vergangenheit an der Macht sind. Dass lebendig bleibt, was sie für vernichtet hielt. Braunschweig interessiert jedoch nicht allein das Familiendrama, nicht bloß der Wiederholungszwang. Gespenster sind für ihn nicht allein Menschen. Es sind Ideen, Ideologien, auch der von den Kirchen gepredigte Glaube. Frau Alving will eine neue Ordnung, in der es nur ein Gesetz geben soll: Wahrhaftigkeit. Sie ist in einer bigotten, von Opportunisten geprägten Gesellschaft, die Revolutionärin. Eine hellsichtige Frau, der es nicht an Mut fehlt, auszusprechen, was sie weiß. Allein, es mangelt es ihr an Tatkraft. Sie ist feige. Ein Gespenst der vertanen Zukunft.
Braunschweig kritisiert eine Welt, in der Idealisten keine Chance haben, Utopisten untergehen müssen; in der nur die zu Macht gelangen, die sich mit dem System arrangieren. Mit aller Schärfe zeichnet er diesen Gegensatz. Hier: die Lemuren – Frau Alving und ihr Sohn Osvald, der Maler, der zum Sterben nach Hause zurückkehrt. Dort :Pastor Manders, der Tischler Engstrand und Regine, die er als seine Tochter erzogen hat, aber ein Kind ist, gezeugt von Frau Alvings Mann und einer Hausangestellten, die Engstrand, nicht zuletzt wegen ihres als Schweigegeld empfangenen kleinen Vermögens, zur Frau nahm. Hier Frederike Kammer und Daniel Christensen; dort Udo Samel, Uwe Bertram und Ruth Marie Kröger.
Friederike Kammer offenbart in jeder ihrer Bewegungen, wie wenig Leben noch in dieser herrischen Frau Alving steckt und wie viel Furcht vor Nähe, die sie stets als Betrug erlebt hat. Extrem leise, langsam trennt sie sich von den Worten, so als überlegte sie zuvor, ob sie Bestand haben. Wenn sie Wahrheit fordert, klingt diese Sehnsuchtsvokabel wie eine Anklage, die zu äußern sie nur wagt in einem Traum Zweimal bloß lässt sich Frau Alving berühren. Sohn Osvald, der ebenso traumverloren und doch geistesgegenwärtig durch den Raum geistert wie sie, darf seinen Kopf in ihren Schoß legen, darf ihren Hals kosen und küssen. Daniel Christensen tut’s furchtsam, so als ängstigte diesen sanften Jungen die Vertrautheit. Und er tut’s nicht aus Liebe. Er will etwas: Das eine Mal Alkohol, um seine Angst vor dem nahenden Wahnsinn zu ersäufen. Das andere Mal, um die Mutter zu bitten, ihm das Morphium zu geben, damit ihm die Qual eines langen, bewusstlosen Leidens erspart würde. Endlich löst sich Daniel Christensen von Friederike Kammer. Er streckt ihr seine Hand mit den tödlichen Pillen entgegen, sie wagt die gleiche Geste, sie zu empfangen. Osvald will Erlösung - und die Mutter will sie auch. Das Gift: eine Hostie in einer gottlosen Welt, in der es keine Rettung gibt. Und an das Jenseits glauben beide nicht mehr.
Denn dem, der davon faselt und gottgleich richtet, ihm misstrauen sie längst. Er ist das lebendigste Gespenst von allen. Ein Reaktionär, ein gefährlicher Wurm - selbstgefällig, egoistisch, skrupellos: Pastor Manders. Udo Samel, der kleine, rundliche Mann, spielt ein böses Kind. Wenn es sich fürchtet, sucht es Halt und grabscht sich den Hut. Wenn es aus der Haut fährt, wird es zum Rumpelstilz. Wenn der Geistliche das Wort Recht vernimmt und es nicht das seine ist, dann würgt er die fünf Buchstaben heraus. Er will sie erbrechen. Salbadert er von Gott, dann stellt er sich in Pose. Pastor Manders wird bei Samel zu einem Ekel der liebenswürdigen Art; zu einem, das in der größten Not alle seine moralischen Grundsätze über Bord wirft. Er, der alle abkanzelt, nach selbst gesetztem Maß, ist ein Wesen, das alle überleben wird und als Prototyp die Welt beherrscht. Nur kurzzeitig zeigt sich der Pastor verunsichert, als er von Engstrand erfährt, er selber sei es gewesen, der mit einem Kerzendocht nach der Andacht das Feuer entfachte und somit das Asyl niederbrannte. Jenes Kinderheimes, das er eröffnen und mit dem er sich schmücken wollte und das Frau Alving erbauen ließ zur Ehre ihres gehassten Mannes und um sich und den Sohn endgültig von dessen Vermögen zu trennen wie von einem Judaslohn. In Udo Samels Gesicht graben sich Falten, der Blick flirrt, die Stimme flattert. Den Pastor quält der Gedanke, aus dem Kreis der Einflussreichen verstoßen zu werden. Keine Rettung? Doch. Der gewiefte, vorwitzige, selbstische Engstrand bietet Hilfe an. Uwe Bertram lächelt aasig und zugleich hündisch. Der Tischler will schweigen – für Geld. Topp! Zwei Gespenster, zwei Vampire – gerettet.
Die beiden Alvings: Lemuren ohne Zukunft. Engstrand und Manders: Überlebensmonster ohne Selbstzweifel.. Und Regine? Eine trotzige, selbstsichere, freche, schöne Göre. Egoistin mit Klasse. Ganz der Vater. Wie einst der Kammerherr Alving lechzt sie nach Leben, nach Geld, nach Welt, nach Liebe. Ihr Credo: Ich, ich, ich. Als sie erfährt, dass er sterbenskrank, zudem ihr Bruder ist, also Heirat unmöglich, verlässt sie ihn und das Haus .Verstoßen, verloren: Osvald und Helene Alving. Der Raum, lichtlos schwarz: ein Grab. Durch ein Fenster dringt morgendliche Sonne, die der vom Wahnsinn erfasste Knabe sich von der Mutter zum Geschenk wünscht. Stumm stiert Daniel Christensen; regungslos verharrt Friederike Kammer. Zwei Geister. Braunschweigs Mahnung, die Gespenster – alle! – endlich zu verscheuchen.
C. BERND SUCHER
SÜDDEUTSCHE ZEITUNG 11./12. Januar 2003