viel Spaß beim lesen:
Bad Kreuznach
02.03.2008
Niclas Krolla
Oh man. Ich weiß gar nicht mehr was ich denken soll. Ich fühle mich so erbärmlich. Ich muss mir verdammt nochmal Gedanken machen! Ich bin ein verdammter Sommergast! Mir geht es gut - verdammt gut. Ich habe Spaß und Vergnügung aber trotzdem fühle ich mich schlecht damit. Es zernagt mich. Ich suche. Verdammt, ich tue das was die Schauspieler schon 2 Stunden lang vor mir auf der Bühne tun. Ich bin ein Idiot. Suche die ganze Zeit nach dem was Richtig ist und da vorne wird mir gesagt, dass es falsch ist was ich tue. Puh. Wie soll ich da noch durchblicken? Wenn ich mal Fuß gefasst habe, wird mir gleich alles wieder über den Haufen geworfen. Ein einziges Chaos. Scheiße fühle ich mich schlecht. Und es ist so verdammt warm! Ein einziger Abgrund, ja, das ist es was in mir ist. Und vor mir... Die Schauspieler sitzen rauchend auf Schaukeln. Unter ihnen ein Abgrund. Oh mein Gott. Das ist alles einfach so verdammt direkt und durchschauend. Sie brabbeln etwas vor sich hin. Ich höre bewusst nicht hin, denn ich weiß was sie sagen. Es soll Zusammenhangslos sein. Geschwafel. Es soll keinen Sinn haben. Das ist die Kritik. Und unter ihnen der Abgrund... kein Boden unter ihren Füßen. Den haben sie verloren. Ich fühle mich auch gar nicht, als würde ich noch in dem Sitz im Publikum sitzen. Auch ich sitze auf einer Schaukel. Ganz reglos. Absurderweise habe ich das Gefühl, dass ich stürzen könnte wenn ich mich bewege. Wirklich so absurd? Nein. Genauso wenig wie das Stück, obwohl es schon ziemlich upgespaced ist.
Verdammt fühle ich mich schuldig. Das ist das erste Stück bei dem mich die Kritik direkt trifft. Ja, jetzt fällt es mir erst auf! Sonst leiten sie die Autoren immer an mir vorbei und schieben die Schuld der Gesellschaft in die Schuhe, etwas wofür der einzelne Mensch nichts kann. Bei dem Stück aber ist es was anderes. Gorki ist genial, das muss ich einfach sagen. Wie hat er das geschafft? Er schaff es auf geschickte Weise seine Kritik gegen alle zu wenden, aber am Ende spricht er doch den einzelnen Menschen an. Mich! Ein verdammt guter Beobachter muss dieser Gorki gewesen sein. Er weiß genau wie Menschen funktionieren. Er muss genau gewusst haben wie er funktioniert. Wow. Aber natürlich! Wenn man Menschen analysieren will fängt man besser nicht bei anderen an, sondern bei sich. Aber natürlich. Wieso habe ich vorher noch nie daran gedacht? Ich schaue immer auf andere Menschen, aber im Grunde bin ich der schlechte Mensch, bin wie die anderen. Daraus lässt sich Kritik basteln, hoho. Langsam verstehe ich auch warum mich Frau Lienhard mitgeschleppt hat. Man bin ich ein Idiot. So verdammt naiv. Ich nehme wieder wahr was auf der Bühne passiert. Grade redet der eine davon sich umzubringen, weil die eine seine Liebe nicht erwidern wollte. Ein einziges aneinander Vorbeilieben. Das ist aktuell. Die Frage ist nur wen Gorki kritisieren wollte. Es ist Vorrevolution. Die Kritik galt den Reichen. Nun aber gilt sie vielen. Hatte Gorki das gewusst? Vielleicht. Aber hätte er nicht etwas anderes gemacht, wenn er gewusst hätte, dass alle zu Sommergästen werden? War die Revolution denn überhaupt gut? Bestimmt, aber darüber muss ich später nachdenken. Jetzt ist zu viel auf einmal. Fakt ist, dass seine Kritik aktuell ist. Und ich bin nicht der einzige der sich so fühlt. So peinlich berührt. Ich spüre es in der Menge. Ich spüre die Hitze im Publikum. Es sind haben sogar schon einige den Saal verlassen. Peinlich ist genau das richtige Wort. Das ganze ist mir sau peinlich. Mein Kopf muss so rot sein wie eine Tomate so hitzig ist es auf meinem Gesicht.
PENG! Ich fahre hoch, als hätte ich tausend Morde zu verschulden. Vielleicht nicht ganz Morde, aber zumindest unbewusste Schandtaten. Energieverschwendung - mein Computer- wer weiß wie viel Fläche Regenwald ich schon zu verschulden habe. Der Kaffee den ich trinke, wie viele arme Menschen musste dafür leiden? Alle Billigprodukte. Irgendeiner muss darunter leiden, dass ich meinen Spaß habe! Dieser verdammte Lebensstil! Ich werde ja als Sommergast ins Leben geboren!
Mit noch aufgerissenen Augen schaue ich auf den Selbstmörder. Ein anderer redet weiter. PENG! Noch ein Schuss. Schreck! Wann hört das denn endlich auf?! Gleich bekommt noch jemand einen Herzinfarkt! Ich wette Gorki hat das genau geplant. Er wusste dass sich der Zuschauer zu diesem Zeitpunkt intensiv mit seinen Gedanken beschäftigt, garantiert! Das ist doch nur eine Methode jemandem das schlechte Gewissen schlimmer spüren zu lassen.
Als wäre der Schock nicht genug mich aus meinen Gedanken herauszureißen, taumelt der Selbstmörder jetzt auch noch auf der Schaukel herum. Lässt er sich fallen? Bestimmt. Er provoziert es. Wow. Ich warte gespannt darauf, dass er in den Abgrund stürzt.
Feedback von Katja: Von Anfang an habe ich körperlich das Unbehagen, die Zerrissenheit der Gefühle spüren können. Im Laufe der Geschichte (und weil ich die Zusatzinfo hatte, dass es um einen Theaterbesuch ging) wird mir klar, dass es um ein Theaterstück wohl von Maxim Gorki geht (da ich leider nicht so firm bin, weiss ich nicht, welches es ist ;=( - ich nehme an, es heißt oder handelt von Sommergästen.
Den Bogen, den Du spannst – die im Stück dargestellte Schuld – die Du auf Dich selbst beziehst, weil eben nicht die Gesellschaft schuld ist, sondern ich selbst (auch ich als Leser Deiner Geschichte) – gefällt mir sehr gut, oder eigentlich nicht, denn das Unbehagen fühle ich selbst, es ist ein ziemlich unangenehmer Druck in der Magengegend, eine zunehmende Übelkeit.
Was mir auch gut gefallen hat, ist Deine Aufmerksamkeit für die anderen Leute rundherum. Ihre Reaktionen kann ich ebenso sehen und fühlen.
Dein Gedanke, dass Du im Moment keine Zeit hast, über die Revolution nachzudenken, sondern festgehalten bist durch die Spannung des Stücks, hat auf mich eine starke Wirkung: ich nehme teil an diesem Geschehen und wünsche mir, noch mehr zu sehen, zu fühlen, zu hören, dabei zu sein.
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Nachdem ich nun zum zweiten Mal merkte, dass mein Erleben einer Inszenierung des Schauspiel Frankfurt ganz anders ausfällt als die oftmals vernichtenden Kritiken in den großen Frankfurter Meinungsblättern FAZ und FR, will ich das einmal mitteilen. Ganz offensichtlich füllt sich der Theatersaal nicht, wenn die Großkritiker den Daumen senken. Ich kann nur sagen, dass ich den Aufführungen sowohl von "Ein Volksfeind" als auch letzten Samstag von "Sommergäste" einen anregenden Theaterabend mit einer Menge Gesprächsanstößen verdanke. Fast hätte uns Herrn Idens Verdikt "Lieber barfuß in den Taunus" im letzten Moment vom Besuch der "Sommergäste" abgehalten. Das wäre ein bedauerliches Versäumnis gewesen. Denn gerade wenn man auch ältere Inszenierungen der "Sommergäste" kennt, hat das in Frankfurt gezeigte Konzept Bestand. Es holt die Geschichte in unsere Zeit.
Regiekonzept, Bühne, Choreographie, das Schauspieler-Ensemble – das alles fand ich stimmig und möchte es loben.
Kleine Anmerkung: das ständige Ausziehen (Kompliment an die Leichtigkeit der Schauspieler dabei) gehörte unbedingt dazu, die Ansicht der männlichen Blöße fand ich nicht anstößig, aber überflüssig. Und – bei aller Zustimmung für diesen Schauspieler - Aljoscha Stadelmanns Dauer-Dribbeln beim Wiederholen von Gesten würde eine Reduktion gelegentlich gut tun.
Fazit: Müssen Kritiker 2008 tatsächlich immer wieder auf alte Schaubühnen-Zeiten zurückgreifen? Man sollte das Urteil der Fachleute erst lesen, nachdem man sich ein eigenes Bild gemacht hat.
Viele Grüße,
Sieglinde Stähler