DER FREMDE

Zuschauerkritiken


"Der Fremde" - ein Theaterabend der besonderen Art


Walter H. Krämer / kraemer.kultur@t-online.de
"Der Fremde" nach dem Roman von Albert Camus - gesehen am Mittwoch, den 21.01.09 / Ein Theaterabend der herausragenden Art. Die Schauspieler, allen voran Wolfram Koch, hervorragend. Ihr Spiel in immer wieder wechselnden Rollen - Kabinettstückckchen der Schauspielkunst. Die Bühne - ein mehrdimensionaler Raum, der viele Möglichkeiten für eigene Assoziationen bietet und somit das eigene Denken befördert. Hat man das Buch gelesen oder gehört (von Ulrich Matthes eindringlich vorgelesen), so lernt man an diesem Abend was Dekonstruktion bedeutet und welche Qualitäten es bietet. Der Roman wird nicht linear und chronlogsich erzählt. Er wird auseinander genommen und neu zusammen gesetzt, fremde Texte ( in diesem Falle Texte von Frantz Fanon) eingebaut. Der Text also erweitert, neue Denkräume - in dieser Inszenierung auch mittels dreier Fernsehmonitore und mittels Videoprjoektionen - eröffnet, Beziehungen hergestellt. Man muss wach sein, sich auf Neues einlassen. Das provoziert - besonders dann, wenn man die Erwartung hat, dass die Textvorlage eins zu eins umgesetzt wird - und führt im schlechesten Falle dazu, dass man das Theater vorzeitig verlässt. Bleibt man und lässt sich auf die Inszenierung ein, erlebt man einen Theaterabend, der lange nachwirkt und der dem Blick auf den Orginaltext von Albert Camus neue Perspektiven eröffnet und ihn in das Heute verlängert. Der Abend ist kein einfaches Vergnügen, die Inszenierung keine leichte Kost - doch allemal Futter für"s Gehirn! Sebastian Baumgarten hat mit viel Einfühlungsvermögen, Witz und Geist inszeniert und die Schauspieler Martin Butzke, Wilhelm Eilers, Wolfram Koch, Ruth Marie Kröger und Falilou Seck setzen das in gleich mehreren Rollen mit großem Können und Spielfreude um. Ein Theaterabend der besonderen Art. Gehen Sie hin, bleiben Sie neugierig und lassen sich überraschen, wie vergnüglich Denken und Zuschauen sein kann. Und wenn Sie hinterher Lust auf ein Bier haben - vielleicht eine Auswirkung der eingeblendeten Werbung!

Gemischte Gefühle


Stefan Knop / stefan-knop(bei)web.de
Respekt für die engagierte Leistung der Schauspieler in diesem sicher schwer zu spielenden Stück. Gerade die schnellen Rollenwechsel im Endteil (Gerichtsverhandlung) fand ich ausgesprochen gut umgesetzt.

Schade nur, dass einige Zuschauer diese Leistungen gar nicht mehr mitbekommen haben, weil sie vorzeitig die Vorstellung verließen. Ich selbst war eine Zeitlang ebenfalls kurz davor. Später wurde das Stück erst erträglich, dann sogar richtig gut. Kurz vor Schluss ergab sich eine reelle Chance für ein "versöhnliches" Ende... die aber leider mit genau dem gleichen Stilmittel vertan wurde, welche mir vorher schon weite Teile der Aufführung vergällt hatte - nämlich dem übermäßigen Einsatz von, sagen wir, "Spezialeffekten". Diese wurden gerade zu Beginn überhäuft und, wie ich fand, beinahe schon penetrant eingesetzt. Teilweise wirkte das hektisch (Toneffekte beim Szenenwechsel), teilweise einfach nur nervtötend (Nicht enden wollende Videosequenz am Anfang).

Überflüssig fand ich die eingestreuten Verweise auf die Terrorismus-Thematik. Insbesondere bei den immer wieder gezeigten "WIR FORDERN"-Videos hatte ich den Eindruck, dass hier jemand den Film "Der Baader-Meinhof-Komplex" gesehen hatte. Eine wirkliche Nachricht, oder einen inhaltlichen Bezug zur Handlung, konnte ich auch bei gutem Willen nicht erkennen. Ist allerdings einige Jährchen her, seit ich die Buchvorlage gelesen habe. Vielleicht ging"s da in einem Unterkapitel ebenfalls um die terroristische Forderung nach der Einstellung des Weinanbaus, und ich habe das nur vergessen.

An den Reaktionen im Publikum konnte ich erkennen, dass der exzessive Einsatz von Schlamm und Spritzwasser bei vielen auf Ablehnung stieß. Für mich selbst habe ich das erneut als eine Hommage an den BMK-Film eingeordnet, wo die Kinder von Ulrike Meinhof ja auch am Strand spielen. Das anschließende splitternackte Umkleiden im hinteren Teil der Bühne verstand ich als eine revolutionäre Geste von Aufgeschlossenheit und Modernität, wenn auch auf allgemeinem Sauna-Niveau.

"Chapeau!" für die Schauspieler. Mit der szenischen Verarbeitung der Kernhandlung konnte ich mich gegen Ende ebenfalls anfreunden. Die Inszenierung war hingegen nicht so mein Fall.

Der Fremde


Renard Spikol / renard.spikol@gmx.de
Eine "Rechtfertigung" einer Bühnenbearbeitung eines Romans, vor etwa 60 Jahren geschrieben, liegt darin, den Abstand zum Originalwerk hinsichtlich des Lebensgefühls, des Selbstverständnisses/der Funktion(en) von Institutionen, der Bedeutung ethnischer und geografisch-kultureller Zugehörigkeit zu markieren. War Camus´ existenzielle Verunsicherung noch von Verzweiflung und Engagement geprägt, so wird in dieser Inszenierung ablesbar ein mehrfacher Verlust: von Authentizität, von relativ selbstverständlicher kultureller Identität, von Integrität.
Dieser allgemeine Verlust wird dergestalt kenntlich gemacht, daß in Symmetrien und Spiegelungen aufgezeigt wird, daß die jeweilige Gegenseite ( die Justiz, der unbescholtene "Normalbürger" ) genau jene Haltung zeigt, deren Meursault angeklagt wird.
1. Zum Verlust der Integrität:
Meursaults Schuld wird sowohl an seiner Tötung eines Arabers festgemacht wie auch an seiner reuelosen Gleichgültigkeit. Echogleich wird Massaker im "großen Stil" per Videoeinspielung thematisiert. Der Gleichgültigkeit Meursaults entspricht die Indifferenz des Richters, der M. kumpelhaft und zynisch-beruhigend versichert, Hinrichtungen gehörten zum Alltag. Bietet M. dem Leiter des Altenheims, in dem vor kurzem seine Mutter verstorben ist, "ungeziemenderweise" eine Zigarette an, so bietet der Richter ( gegen den abschlägigen Bescheid Meursaults) diesem eine Zigarette an. Wird M. ein eklatanter Mangel an Reue vorgeworfen, so entspricht dem eine perfide Taktik eines "Freundes", der seine Partnerin manipulieren will, damit sie etwas bereue und er sie so noch mehr in seiner Hand habe. Eine Aushöhlung der Reue, die Demontage eines eingeklagten ethischen Wertes wird so demonstriert.
Der Gleichgültigkeit Meursaults ( Psychologen, dies sollte man nicht vergessen, weisen auf unterschiedliche Formen der Trauer hin ) korrespondiert die unablässige Vergnügungsbereitschaft seiner Freundin Marie auch in für Meursault belastenden Situationen.
2. Zur kulturellen und ethnischen Identität:
Marie beschmiert sich mit Schlamm und vergleicht ihre angeeignete Hautfarbe mit derjenigen eines Maghrebiners (?). Dies kann man als symbolische Handlung begreifen, die eingebettet ist in den umfassenderen Versuch, völkische/ethnische Identität als labiles soziales Konstrukt zu werten und nicht als Fixum, auf alle Zeit Festgeschriebenes. Ausdruck dieses Ansatzes ist der inszenatorische Einfall, kulturelle Zeichen als Trivialrequisiten zu handeln.
- Die Gerichtsverhandlung ( offiziell nach dem code penal ausgerichtet ) entartet zum Partytreff, in dem die Beteiligten genüßlich Sekt trinken.
- Ein Telefon ist auf eine Blatt Papier gezeichnet, nicht objekthaft vorhanden.
- Alle Figuren tauschen im Verlauf des Stücks ihre Rollen, eine Perücke macht die Runde vom Richterkopf zum Angeklagtenkopf zum Kopf eines Arabers usw..
- Am Schluß tragen alle vier Figuren ( außer Meursault ) ein Kreuz um den Hals ( geistliche Musik von J.S.Bach wird eingespielt ): sie sind allesamt der Heuchelei überführt, sie alle teilen Meursaults Mangel an Empathie.

Jesus sagte "wer ohne Schuld sei, werfe den ersten Stein". Gewiß! Dennoch: hier werden alle Figuren mehr oder weniger egalisiert, als substanzlose Wesen charakterisiert, ortlos, orientierungslos. Nun sind zwar Orientierungsnot und die Fragwürdigkeit kulturell-zivilisatorischer Identität ein Effekt des aufklärerischen Selbstbefragungsprozesses, der Axiome und Prämissen des Selbstverständnisses in ihrer perspektivischen Gebundenheit und potenziellen Aufhebbarkeit vorführt. Auch sei zugestanden, daß existenzielle Verunsicherung nicht selten zu Zynismus führt. Aber es gibt auch unverbrauchte Traditionsbestände, von denen nicht wenige Menschen in nicht-naiver Weise zehren. Menschen, die zudem in hinreichender Weise ihr Leben nach ethischen Kriterien ausrichten ( "hinreichend" in Entsprechung zum Begriff der "hinreichend guten Mutter", wie sie die psychoanalytische Literatur nennt, welche zugleich auf die Problematik von Idealisierung hinweist ) . Ohne den Reibungsfaktor einer kulturell beheimateten, moralisch hinreichend integren Figur fehlt nach meinem Empfinden dem Stück eine menschliche wie auch dramaturgische Spannung. Das Stück gerät in Gefahr, zu einer schematisierenden , "globalisierenden" Farce sich zu verkürzen. Die "Wahrheit" über den Menschen liegt nicht in seiner überdehnten Entlarvung. Der Entlarvungshabitus selbst hat Konstruktcharakter. Wir Menschen gehen nicht auf in einer Gleichung, die alle unter die Rubriken der Verlogenheit und der Hilflosígkeit subsumiert.
Ist man in Übereinstimmung mit der Diagnose der Inszenierung, dann hat man (evtl.) einer ideenreichen, espritvollen Darbietung beigewohnt. Teilt man aber die Prämissen dieser Zeitdiagnostik nur bedingt ( wie ich ) , dann verspürt man ( evtl.) ein Ungenügen. Es ist allerdings nicht auszuschließen, daß die negative Vereinheitlichung der Figuren/Menschen genau als jener (von mir angemahnte) provokationshaltige und besinnungsauslösende Reibungsfaktor installiert wurde. Renard Spikol

Matschige Langeweile


C. Münch
In nun gut 10 Jahren, in denen ich sehr oft und meist gerne (zB Adam Geist! Hinkemann! Gertrud!) das schauspielfrankfurt besuche, habe ich mich nie so gelangweilt, wie während dieser Produktion.
Die Langeweile beginnt noch bevor überhaupt ein Wort der Schauspieler erklungen ist mit der gefühlt 10 Minuten dauernden vorgeschobenen Videoeinspielung.
Auch danach erklingen zunächst kaum ganze Sätze, die Schauspieler unterbrechen sich, reden parallel und müssen mehrere widerliche Momente über sich ergehen lassen (Matschorgie). Die vielfältigen oft albernen Regieeinfälle ersticken sich in ihrer Wirkung gegenseitig und lenken von den wenigen gelungenen Passagen eher ab. Vollkommen geschmacklos ist die Szene, in der der bebadehoste "Priester" Gott am Kreuz nachäfft und auf den Boden rotzt, damit auch der letzte Depp versteht, dass eine Kreuzigung eine wirklich eklige Angelegenheit ist. Dies war leider nicht der letzte danebenliegende und auf Dauer ermüdende Regieeinfall. Nach einer Stunde riss mir der Geduldsfaden endgültig und ich bin (was bisher nie geschah) vorzeitig gegangen. Ob die verbliebene Zeit den vorausgegangenen "Trash" rechtfertigt hat, müssen also andere beurteilen.
Schade um Camus, schade um die guten Schauspieler, schade um den - diesmal - vertanen Abend.