Ursula könnte meine Freundin sein
Margit Goldbach / margitgoldbach@aol.com
Woher kennt dieser Junge Mann Jan Neumann, das Leben von Ursula? Die Vorstellung war zu 87% besucht. Zahlreiche "Ursulas"? oder solche, die froh sind, doch nicht so zu sein? Auch einige Herren, die unsicher lachten, als der kontaktete Herr zur Sache kam. Ich werde mir Herzschritt nochmal anschauen. Hauptsächlich wegen Traute Hoess. Ein grosses Kompliment an Sie.
Glück in 12 Dosen
Sandra Regenbogen / thespian@web.de
Was dieses Stück ganz subtil und unverhofft aus einem ganz normalen Alltagsabend macht, dafür sag ich einfach mal DANKE. Man kommt wie-auch-immer und geht glücklich. Jede Figur ist so unendlich gut besetzt wie schon eine Weile nicht mehr. Das Bühnenkonzept ist ein Theatertraum. Bravo in alle Richtungen an das gesamte Team & Ensemble.
PS Ich hab mir ja zu Weihnachten einen Harald gewünscht, aber keinen gekriegt. Dann würde ich sagen, ich guck einfach nochmal HERZSCHRITT :)
Herzschritt
Renard Spikol / renard.spikol@gmx.de
Die zentralen Themen werden deutlich exponiert: Einsamkeit, Selbstverpanzerung, Sehnsucht nach Erfüllung. Die Mutter bringt zum Abendessen mit ihrer sechzigjährigen Tochter Ursula vier Hühnchen und allerlei Zutaten mit. Ein Wink der Mutter mit dem Zaunpfahl: Hochzeit versus Einsamkeit; die Weite des fernen Indien versus Enge und sterile Gebundenheit an das Fernsehgerät. Das Rezept hat sie allerdings vergessen; ihre Tochter aber haßt alles Improvisieren ( das Sich-Einlassen auf Unvorhergesehenes ). So ist sie auch symbolisch angemessen charakterisiert als Verwaltungsangestellte, die nachts ihre Einsamkeit mit Phantasien kompensiert, die sich um die Rittergestalt Harald ( ein wenig wie Held klingend ) ranken. Diesem imaginierten Du gibt sie sich masturbatorisch hin. Auch das Bühnendekor bebildert das Partnerschaftsmotiv wie auch das Einsamkeitsmotiv: zwei Weingläser zu einer Flasche Wein, zwei Kränze, zwei Kerzen, zwei Steine. Ursula, die die Zubereitung des Mahls verweigert, bereitet aus den ungeöffneten Dosen eine Art Schutzwall, eine Dose auf die andere türmend. Ihre Freundin Sabine kommt zu Besuch. Vielleicht ist es so abwegig nicht, Sabine als Ursulas alter ego zu sehen, als ihr Ergänzungs-Ich, welches ungelebte Persönlichkeitsanteile und ersehnte Lebensaspekte verkörpert. Sabine ist jung, schlank ( Ursula macht eine Diät ), kräftig-farbig (lila) gekleidet ( Ursulas Kleidung ist blaß ). Auch - deshalb erwähnte ich das Detail - macht Sabine beim Versuch, einen Fleck zu entfernen, quasimasturbatorische Bewegungen. Zudem schneuzt sie sich später synchron und eine zeitlang bewegungsidentisch, als Ursula erstmals ihre tote Mutter beweint. Vielleicht möchte Ursula insgeheim entführt werden ( von ihrem starken Ritter? ) , ähnlich wie dies beim berüchtigten "Raub der Sabinerinnen" geschah, um ihrer Tristesse zu entkommen. Wie trist/traurig sie ist, wird deutlich bei einer Begegnung mit einem Mann, der einen Kontaktwunsch inseriert hatte. Er fragt sie, ob auch sie "aufgegeben" habe. Emphatisch deklariert sie, sie habe nie aufgegeben (resigniert ); er aber hatte das Aufgeben einer Anzeige gemeint. Seelenkundig hat der Autor Jan Neumann Ursula diesen nicht sonderlich sympathischen Mann ( der Erotik im Anweisungsstil exerziert ) später erneut kontaktieren lassen, nicht nur aus Einsamkeit nämlich, sondern weil er eine Eigenschaft mit ihrer toten Mutter teilt: das Bestimmende, Anweisende. In symbolischer Verlängerung bleibt sie so ihrer toten Mutter verbunden, so wie sie auch in der alten Reisekauffrau ( sinnigerweise von der gleichen Schauspielerin gespielt, die auch die Mutter verkörperte ), die ebenfalls hartnäckig auf sie einredet, vage ihre Mutter zu erkennen meint. Man sieht: Ursula liebt(e) ihre Mutter. Nach deren Tod hat sie zwei Kränze auf das Grab gelegt ( repräsentiert der eine Kranz sie selbst? ). Mögen auch einige ungute Bindungsanteile eine Rolle spielen, echter Verlustschmerz und nun zugelassene nachgetragene ( nicht verlogene ) Liebe bestimmen die Rückbesinnung auf die Mutter. So auch entging der Autor einer billigen, voyeuristischen Verhöhnung der beiden älteren , zankverzahnten Frauenfiguren. Und er traut seiner Figur der Tochter ein Entwicklungspotenzial zu, äußerlich symbolisch angekündigt durch die anstehende Entlassung aus dem Verwaltungsdienst. Späterhin wird sie dieses Potenzial teilweise aus der Latenz ( Verborgenheit ) holen and versuchsweise leben. Da dieses Stück ( hoffentlich ) noch ( lange ) auf dem Spielplan steht, versage ich mir Kommentare zum ergiebigen Ende. Bei allem Witz , bei aller Situationskomik ( einschließlich Kalauer ) bleibt genug Raum für echte Rührung und Anteilnahme. Das Verdienst dieser Diskretion teilen sich vor allem, aber nicht nur sie!, der Autor und Traute Hoess, die Darstellerin der Ursula. Das kurze Schlüpfen der Ursula in die Rolle der glamourösen Callas ist beklemmend-betörend. Bei aller Eingenommenheit für dieses Stück, möchte ich zwei Gesichtspunkte nicht unerwähnt lassen, die ich in den kommenden Tagen noch bedenken möchte: 1. Ist der doppelte Bezug auf die dunkle (historische) Vergangenheit ( der Sohn Sabines male sich das markant quadratische Schnurbärtchen schwarz an; Leni Riefenstahl ) , möglicherweise eine Chiffre für Ominöses, dem Werkganzen angemessen zugeordnet? 2. Ist der Aspekt der Panzerung und des Durchbrechens des Panzers überexponiert ( ohne Not überdeutlich dargestellt ) ( man denke etwa an die Metamorphosen, den Form- und Funktionswandel des Ritterschwertes und daran, daß auch der Ritterhelm auf dem Grab der Mutter landet ) ? Es mag aber sein, daß Theaterpraktiker berücksichtigen, daß wir Zuschauer, von der Handlung gebannt, nicht alles wahrnehmen können; insofern haben "Verstärker" ihren Sinn. Als Bilanz aber bleibt das Inspiriertsein bestimmend, das mich verlassen wird, Jan Neumanns anderes Stück "Kredit" mir ein weiteres Mal anzuschauen. Renard Spikol