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Spielplan



Selig sind die Armen im Geiste - Wo bleibt das Himmelreich





Glauben Sie noch, was Sie hören, was Sie sehen, was Sie lesen? Was nennen wir eigentlich heute noch Realität? Wie gehen wir mit ihr um? Das sind die brennenden Fragen, die sich ein Theater immer wieder stellt. Wo früher aufklärerische Prinzipien die Welt zu verstehen und zu ordnen versuchten, werden heute Welt und damit auch ihre Konflikte qua Medienallmacht künstlich konstruiert. Wir bekommen ein Bild von Realität vorgesetzt bzw. wir machen uns ein Bild davon. Wie kam es dazu, daß wir diese nicht mehr aufklärerisch hinterfragen können? Die Aufklärung diente in ihrer historischen Entstehung der Befreiung. Durch Rationalisierung von Gefühlen, Emotionen, Erinnerung und Fantasie wurde Selbstkritik möglich. Und Kunst und Wissenschaft verhalfen, die Menschen aus ihrer »selbst verschuldeten Unmündigkeit« zu entlassen. Die sichtbarste Folge davon war die Säkularisierung der Gesellschaft im europäischen Raum mit genau defi nierten Wertmaßstäben für die bürgerliche Gemeinschaft. Was bleibt nun nach diesen so wichtigen Schritten übrig? Max Frisch sprach schon vor einigen Jahrzehnten vom Ende der Aufklärung, an deren Stelle das goldene Kalb getreten sei. Aber auch hier stellt sich die Frage, ob der Motor des globalen Turbokapitalismus nicht schon längst zu stottern begonnen hat und keine Garantie mehr für eine freiheitlich demokratische Grundordnung darstellt. Zieht man also Bilanz, so ist das Ergebnis des aufgeklärten Geistes ernüchternd: Übertriebener Rationalismus, totale Abstraktion von Gefühl und Emotion, die mit nur rechnendem Verstand als störend abgewertet werden, Bilderfl uten, die nur noch Simulacren bilden, führen unsere Gesellschaft in kühlen Ökonomismus, in die Aufblähung des letztlich einsamen Ichs und den Zerfall sozialer Verbände. Ein Ich, das sich selbst nur noch zum Inhalt nimmt, erklärt sich auch als einzigen Maßstab und vergißt darüber den anderen und muß schlußendlich verlieren. Bereits Adorno diagnostizierte, daß die »vollends aufgeklärte Erde im Zeichen triumphalen Unheils strahlt«, denn die Aufklärung führte einerseits zur Überbelichtung der Realität, in der diese konturlos verschwindet, andererseits zu einer Verklärung des Menschen, dem zugetraut, aber auch zugemutet wird, Realität nur noch für sich selbst zu konstruieren. Die Balance zwischen Verstand und Gefühl, zwischen lebendigem kulturellem Gedächtnis und nüchternem Datenvermerk in elektronischen Medien ist aus dem Lot. Keineswegs jedoch wäre eine Umkehr in das Gefühlige, Kultische oder in die ausschließlich tröstliche Erbauung ein Ausweg. Theater verhält sich hierzu antipodisch, als lebendiges und auf Zusammenkunft setzendes Medium. Es arbeitet der irrigen Annahme entgegen, Erinnerung wäre ein zu musealisierender Gegenstand, arbeitet mit Emotionen und Grenzüberschreitungen, versetzt Verstand und Gefühl in ein zu diskutierendes Verhältnis, manchmal verstörend, manchmal erbauend. Auf jeden Fall versucht es, der kulturellen Amnesie, der fortschreitenden geistigen Verarmung, die soziale Kompetenz und Verantwortung ausblendet, entgegenzuwirken. Rund um diesen Verlust an kulturellen Werten kreist unsere Spielzeit und hinterfragt auch die Hintergründe und wie es dazu kommen konnte. Die einstige Glücksverheißung »Selig sind die Armen im Geiste« erscheint heute pervertiert und verweist auf eine gesellschaftliche Unruhe und einen sich andeutenden Zerfall sämtlicher Kulturen, der sich nicht nur auf das ökonomische Elend, das jeden von uns treffen kann, bezieht, sondern auch auf den drohenden Verlust von kulturellem Gedächtnis, Verlust von sozialen Beziehungen, Verlust der Kultivierung unserer Gefühle, unserer Emotionen, unserer Sinne und unserer Wahrnehmung. Wenn die einseitige Aufklärung uns die Leere, die Inhaltslosigkeit beschert hat und wir bereits von einer Oberflächentextgesellschaft sprechen können, so bietet das Theater, gegen die strahlenden zweidimensionalen Pixelflächen des Computerbildschirmes, Begegnung, Berührung, persönliche Kommunikation und emotionale Auseinandersetzung. Und vielleicht auch den Mut, gemeinsame Utopien zu ersinnen und die soziale Phantasie der Zuschauer anzuregen und zu bereichern. Wir freuen uns auf Ihren Besuch auf dieser Reise zurück in die Zukunft ...

Ihre
Dr. Elisabeth Schweeger
Intendantin schauspielfrankfurt