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05. / 06. Juni 2009

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Ein Gespräch mit der Architektin Sylvia Stöbe zum Flaneur
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FLANEUR - DER KONGRESS

Ein Gespräch mit der Architektin Sylvia Stöbe zum Flaneur


NACH DER VERLORENEN ZEIT: EIN GESPRÄCH ZWISCHEN DER ARCHITEKTIN SYLVIA STÖBE, DER KURATORIN CLAUDIA PLÖCHINGER UND DER DRAMATURGIN NADINE VOLLMER ÜBER SCHNALLENSCHUHE, ZEITÖKONOMIE UND NICHT-ARBEIT

CLAUDIA PLÖCHINGER: Wir bereiten am schauspielfrankfurt einen Kongress zum Thema „Flaneur“ vor und sind daher auf der Suche nach ihm. Wo können wir ihn finden? Wie erkennen wir Ihn?

SYLVIA STÖBE: Ich war auch lange auf der Suche nach ihm und habe ihn nicht gefunden. Er soll ja gelebt haben im 18. und 19. Jahrhundert. Es gibt auch Abbildungen von ihm. Auf denen trägt er einen Hut, einen Gehrock, sehr schöne Schnallenschuhe, und er steht da und raucht...

PLÖCHINGER: Das heißt, er ist schick?

STÖBE: Er ist sehr schick.

PLÖCHINGER: Er zeigt sich?

STÖBE: Ja.

PLÖCHINGER: Er kann es sich auch leisten. Also ist er finanziell unabhängig?

STÖBE: Ja, der Flaneur braucht die finanzielle Absicherung, um überhaupt die Zeit zu haben, in der Stadt herum zu streifen. Er muss unabhängig sein.

NADINE VOLLMER: Das heißt er arbeitet nicht?

STÖBE: Er darf gar nicht arbeiten. Historisch gesehen trat der Flaneur ja erstmals im 18. Jahrhundert in Gestalt des aristokratischen Dandys in Erscheinung. Der Dandy ist ein Lebemann, der von seinem Vermögen lebt, großen Wert auf gutes Essen und gute Garderobe legt. Müßiggang und allseitige Bildung, der Sinn für das Schöne und für den Genuss, das charakterisiert den Dandy, der über die Straßen und in den Passagen flaniert. Doch seine Ausnahmestellung wird vom aufkommenden Bürgertum zunehmend in Frage gestellt.

VOLLMER: Was könnte denn der Flaneur in der modernen Arbeitsgesellschaft sein, die den Menschen als Wesen versteht, das durch und durch in ökonomische Handlungsprozesse, Denkweisen und die damit verbundenen Statuszuweisungen und Kontrollen eingebunden ist? Kann es den Flaneur dann heute überhaupt noch geben? Sie verorten ihn ja als Schwellenfigur.

PLÖCHINGER: Auf der Schwelle zur Moderne. Zur modernen Klassenstruktur, Zeitauffassung, Raumauffassung, Großstadterfahrung und zum modernen Markt.

STÖBE: Ja. Wenn er 1840 noch Schildkröten bei seinem Spaziergang mit sich führte, hat er damit gegen den Zeitstress und die Zeitökonomie der Moderne demonstriert. Er gehört dem Adel an und lehnt das Arbeitsethos der Moderne ab und damit eigentlich die bürgerliche Gesellschaft.

PLÖCHINGER: Das war der Zeitpunkt, an dem Zeit zu Geld wurde.

STÖBE: Genau. Der Bauer verteilte die freie Zeit innerhalb seines Tages, er hatte im Grunde keine wirkliche Freizeit, die ihm zu Verfügung stand. Die Arbeit in der Fabrik ist dagegen eine geregelte, und durch sie entsteht im Grunde die freie Zeit, die der Arbeitnehmer hat. Diese Trennung von Arbeit und Freizeit entsteht ja erst mit der industriellen Arbeitsgesellschaft. Und gegen all das protestiert der Flaneur.

VOLLMER: Mit seinem Müßiggang, seinem Nichts-Tun...

STÖBE: ... und auch mit seinem Blick für das Schöne. Es wird berichtet, dass er morgens erstmal lange entscheiden musste, welche Schnallenschuhe er für den Tag wählen sollte. Und, wenn er dann auf der Straße jemanden sah, der dieselben Schnallenschuhe trug, sofort zurück nach Hause ging und andere Schuhe anzog.

PLÖCHINGER: Der Flaneur möchte sich also von der Menge abheben.

STÖBE: Es wird ja oft behauptet, dass Edgar Allen Poe mit seinem „Mann in der Menge“ in einem Zusammenhang mit dem Flaneur stünde, doch ist der Mann in der Menge der konkrete Gegensatz zur inszenierten Individualität des Flaneurs. Auf der einen Seite bietet die Menge dem Flaneur Asyl, in ihr fühlt er sich geborgen, in ihr kann er seine Einsamkeit vergessen. Sein ganzes Streben besteht aber darin, sich von der Menge abzusetzen.

PLÖCHINGER: Er ist Teil der Menge, aber grenzt sich in seiner Bewegung davon ab. Wie heißt es bei Franz Hessel: „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen. Man wird überspült von der Eile der anderen, es ist ein Bad in der Brandung.“

STÖBE: Er beobachtet die Menschen aus einer Distanz.

VOLLMER: Die Distanz hat er ja auch sonst, zum Beispiel was den Markt angeht. Er begutachtet zwar die Auslagen, aber er kauft nicht.

PLÖCHINGER: Er will das Schöne nicht haben. Er will betrachten, aber nicht besitzen. Und er hat kein Ziel. Warum geht er los?

STÖBE: Aus Langeweile. Oder anders ausgedrückt: auf der Suche nach Zerstreuung. Zerstreuung bedeutete zur damaligen Zeit, raus zu gehen aus dem Haus – heute kann man ja die Zerstreuung durch Fernsehen und Internet im Haus genießen.

PLÖCHINGER: Der Grund loszugehen hat demnach etwas mit dem Sich-Abgrenzen von der Langeweile zu tun, seinen Zustand zu verändern. Er hat also einen Grund loszugehen, aber kein Ziel.

STÖBE: Er muss an jeder Ecke neu entscheiden können, wo er lang gehen möchte. Ich habe mich oft gefragt, wie das war mit Walter Benjamin, wenn er dann losgegangen ist. Denn wenn man wirklich kein Ziel hat: Wie kommt man dann wieder nach Hause? Manchmal, schreibt er, sei er irgendwo untergekommen. Insofern geht der Flaneur immer ein Risiko ein, zum Beispiel das, zur Nacht nicht nach Hause zu kommen.

PLÖCHINGER: Womit endet das Flanieren? Mit dem Schlaf? Mit dem Wieder-zu-Hause-Sein, oder an dem Punkt, an dem ich entscheide, wieder nach Hause zu gehen und damit wieder entscheide, ein Ziel zu haben?

STÖBE: Genau, mit der Entscheidung, ein Ziel zu haben, ist es wieder vorbei. Das ist ja im Grunde genommen eine Utopie. Wer könnte das wirklich tun? Vielleicht der Clochard. Wer könnte loslaufen, ohne ein Ziel, ohne zu wissen, abends um acht bin ich da und da.

PLÖCHINGER: Der finanziell unabhängige Dandy-Flaneur geht kein Risiko ein, denn es gibt die Begrenzung durch das Wieder-zu-Hause-Sein. Deshalb könnte man andererseits fragen: Ist Flanieren möglich als Methode der Abgrenzung? Um seinen Zustand, seinen Ort, seine Perspektive zu wechseln? Könnte man das Flanieren für einen bestimmten Zeitraum betreiben, wenn man zum Beispiel sagt: Heute entferne ich mich von meiner Alltagsrealität und gehe flanieren, lasse Dinge und Entscheidungen passieren, gehe also ohne ein bestimmtes Ziel los?

STÖBE: Für einen Tag losgehen. Das war ja die Definition von Guy Debord und den Situationisten: Dérive – einen Tag muss ich umherstreifen. Aber es gibt eben verschiedene Handlungsanweisungen zum Flanieren. Wenn ich den Aristokraten nehme, dann ist es richtig, der ist immer wieder heimgegangen. Der Flaneur, den Walter Benjamin beschreibt, geht ins Utopische. Er ist ein Sehnsuchtsbild. Er hält sich auch nur teilweise an der Realität des Dandys auf. Es sind immer verschiedene Bilder, die Benjamin addiert, um den Übergang von der Vormoderne zur Moderne darzulegen. Insofern ist der Flaneur für ihn im Grunde genommen auch nur ein Bild, an dem er verschiedene Themen des Übergangs abhandeln will. Benjamins Sicht entwirft ein irreales Bild, ein Traumbild, ein Symbol...

VOLLMER: Also ein Sehnsuchtsbild, von dem aus man zu bestimmten Themen gelangt.

PLÖCHINGER: Ja, ich denke er funktioniert eher als eine Art Schlüssel für eine Reflexion über Themen wie Zeit und Effizienz oder wie „Was bin ich im Verhältnis zur Gesellschaft?“, „Wie fließt meine Wahrnehmung in Gesellschaft ein?“.

STÖBE: Ja, anstatt „Bild“ könnte man auch „Schlüssel“ sagen. Der Flaneur ist ein Schlüssel um bestimmte Themen sichtbar zu machen.

PLÖCHINGER: Letztlich instrumentalisieren wir ihn auf eine Art, um zu dieser Auseinandersetzung zu gelangen.

STÖBE: Die Vermarktung passiert ja auf mehreren Ebenen. Während der Dandy als Flaneur, Aristokrat und Edelmann in erster Linie flanierte, um seinen Status in der Öffentlichkeit zu präsentieren und um die Zeit totzuschlagen, die er infolge seiner Nichtintegration in den Arbeitsmarkt reichlich zur Verfügung hatte, beginnt um die Mitte des 19. Jahrhunderts herum das Flanieren jetzt durch den „Künstlerflaneur“ ziel- und zweckgerichtet zu werden. Die Schriftsteller und Maler versuchen auf der Straße Eindrücke zu sammeln, um diese Anregungen dann in ihren Werken zu verarbeiten. Der Schriftsteller, der sein Flanieren vermarktet, ist also ein Aspekt des Marktes. Der zweite Aspekt ist eine Art von Städtewerbung, wie sie zum Beispiel Berlin betreibt, die versucht, auf den Mythos der 20er Jahre zurückzugreifen, indem sie sagt „Wir sind die Stadt des Flanierens“. Überall werden Straßen zu Boulevards umgebaut, und das ja nicht, weil man die Stadt schöner machen will, sondern weil die Geschäftsleute ein ökonomisches Interesse daran haben, dass ihre Kunden gut parken können und in Ruhe schlendern und kaufen können.

VOLLMER: Ist das Flanieren denn überhaupt existenziell ans Gehen gekoppelt? Man spricht ja auch gern vom „Flanieren im Kopf“ im Sinne von Verweilen.

STÖBE: Das Flanieren ist immer an die Bewegung im Raum gekoppelt, denn es ist immer auch eine spezielle Raumerfahrung, die die Großstadt braucht. Ich kann nicht auf dem Dorf flanieren, ich kann auch nicht über ein Feld flanieren, ich brauche die Großstadt.

VOLLMER: Das heißt es geht um das Sehen aus der Bewegung heraus?

STÖBE: Ja. Und das, was Sie eben angedeutet haben mit dem Flanieren im Kopf, das habe ich, wenn ich durch die Stadt gehe und anfange, meinen Gedanken nachzuhängen, zu beobachten und zu reflektieren, so dass sich in meinem Kopf eine Art Film entwickelt aufgrund meiner Reflexionen und Erinnerungen, die ich habe angesichts dessen, was ich sehe. Insofern spielt sich das Flanieren natürlich im Kopf ab, aber das Gehen ist dafür unerlässlich.

VOLLMER: Das ist es wohl, was Walter Benjamin als „Ursprung des Scheins“ bezeichnet. Dass also die Wahrnehmung aus den Anreizen der Umgebung heraus ihren eigenen Film produziert, das Bewusstsein also ein Film ist, der mich in eine Innerlichkeit zurückwirft, die möglicherweise fast abgekoppelt ist von meiner Umgebung.

STÖBE: Man könnte ja auch sagen, dass das der Beginn des Films ist. Ich beschäftige mich seit mehreren Semestern in meinen Seminaren mit Film und Raum, auch mit den großen Panoramamaschinen, die es im 19. Jahrhundert in Paris gab und mit denen sich eine bestimmte Sichtweise entwickelt hat. Zum Beispiel das Bedürfnis, einen Überblick über die Stadt zu bekommen, weil sie in einem Maße gewachsen ist, dass der Überblick verloren gegangen ist. Da entsteht das Bedürfnis, einmal auf einer solchen Panoramaleinwand das Ganze zu sehen. Wenn man das weiterdenkt, so wird daraus irgendwann das bewegte Bild des Kinematographen. Insofern sind diese Veränderungen in der Wahrnehmungs- und Sichtweise auch alle Schnittpunkte im Umbruch zur Moderne.

VOLLMER: Der Umbruch, also die Brüchigkeit, die sich an der Figur des Flaneurs beschreiben lässt, interessiert mich. Die Figur des Flaneurs weist ja einige Paradoxien auf. Zum Beispiel den Aspekt der Zerstreuung: Der Flaneur sucht die Zerstreuung, gerät aber damit gewissermaßen in eine Form von Rastlosigkeit. Das, was er als Zerstreuung, als das Gewinnen neuer Eindrücke empfindet, dient einen Tag später schon nicht mehr der Zerstreuung, sondern wird als bekannt wahrgenommen. Wie kann man ständig auf der Suche nach Neuem sein und gleichzeitig den Müßiggang pflegen? Oder ist das gar kein Paradox, sondern eine Gleichzeitigkeit, die in der Figur des Flaneurs aufgeht?

STÖBE: Georg Simmel hat dieses Paradox in Zusammenhang mit dem Nervensystem beschrieben. Je mehr ich nach dem Neuen suche beziehungsweise die Rastlosigkeit der Stadt mir immer mehr Impulse gibt, desto mehr nimmt das menschliche Gehirn eine Dämpfung vor. Eine Reaktion auf den so genannten Schock der Großstadt, mit der ich mich in eine Art Kokon hülle, durch den ich eigentlich kaum mehr etwas wahrnehme. Stecke ich dann aber in diesem Kokon, wird mir wieder langweilig, weshalb ich wieder nach Zerstreuung und neuen Eindrücken suche, die diesen Kokon durchbrechen könnten. Genau dieses Paradox ist in der Figur des Flaneurs eingeschrieben.

PLÖCHINGER: Welche Rolle spielt für den Flaneur das Verweilen oder Innehalten. Innehalten ist ja ein gern benutzter Begriff für Bewusstwerdung und Reflexion. Ein umgekehrtes Pendant zur Hast. Ich frage mich: Braucht der Flaneur das Innehalten oder ist das Flanieren an sich schon Sich-Bewegen und Innehalten zugleich? Also: Ist die Reflexion und Wahrnehmung, die wir mit Innehalten verbinden und die uns einen anderen Blick auf unsere Realität und Umgebung gibt, genau der Zustand des Flaneurs?

STÖBE: Dem würde ich zustimmen. Er muss nicht stehen bleiben, um zu verweilen, und er muss keinen bestimmten Ort dafür aufsuchen.

PLÖCHINGER: Er ist unterwegs und muss sich entscheiden, da oder dort lang zu gehen, das heißt das Flanieren hat etwas mit situativen Entscheidungen zu tun, die im Zweifelsfall für den Flaneur selber gar nicht durchschaubar oder formulierbar sind.

STÖBE: Genau.

VOLLMER: Eben kam schon die Frage nach einer Methode auf: Gibt es dennoch eine Methode des Flanierens, und wenn ja, könnte man sie lernen?

PLÖCHINGER: Anders gefragt: Wie lässt sich diese Situation herstellen, nur noch aus der Situation heraus entscheiden zu müssen? Möglicherweise doch dann, wenn die Zielgerichtetheit entfällt, wenn ich nirgendwo ankommen muss, nichts erledigen muss, nirgendwo vorbeikommen muss, mit niemandem reden muss. Es hat also doch eigentlich viel mit einem Nicht-Müssen zu tun.

STÖBE: Natürlich, der Freiheitsgrad ist ja das faszinierende Moment an der Figur des Flaneurs und eben genau das, was diese Sehnsucht ausmacht.

PLÖCHINGER: Dabei geht es ja auch um die Freiheit des Denkens. Das Flanieren als die Bewegung im Denken. Als der Dandy-Flaneur irgendwann von dem sogenannten Künstlerflaneur abgelöst wurde, hatte man es plötzlich mit eine Figur zu tun, die bewusst – man kann also von Methode sprechen – flaniert ist und sich die Erkenntnisse, die sie durch das Flanieren erlangte, auch zunutze gemacht hat für eine kritische Reflexion über Stadt und ihre Entwicklung. Könnte man das so sagen?

VOLLMER: Walter Benjamin schreibt ja im „Passagenwerk“ davon, dass das Warten der eigentliche Zustand des unbeweglich Kontemplativen zu sein scheint, das Zweifeln aber der des Flanierenden. Und den Zweifel sehe ich schon als Grundkategorie des kritischen Denkens, ich glaube fast des Denkens und Erkennens überhaupt.

STÖBE: Dem würde ich zustimmen.

PLÖCHINGER: Warum hat dann der Dandy-Flaneur, der ja im Grunde ein dekadenter Depp ist, also eine kapitalistische, sich der Verantwortung gegenüber dem Gemeinwesen entziehende Figur, noch so viel Anziehungskraft?

STÖBE: Der Dandy kommt ja aus dem Überfluss...

PLÖCHINGER: Heißt das – wir sind ja noch immer auf der Suche nach ihm – wir könnten ihn in der Oberschicht finden?

STÖBE: Dann ist er aber jetzt pleite. Nein, ernsthaft: Warum hatten Leute Zeit, Bücher zu schreiben? Denken wir an Nietzsche oder Schopenhauer. Weil sie den finanziellen Hintergrund hatten. Man brauchte gesicherte Verhältnisse, um den distanzierten, kritischen Blick auf die Gesellschaft zu haben, wie den Blick des Flaneurs, der sich in der Menge bewegt und trotzdem nicht in ihr aufgeht, sondern die Distanz wahrt.

PLÖCHINGER: Braucht oder will man den Flaneur oder das Flaneur-Sein zurück?

STÖBE: Es gibt ihn ja als Sehnsuchtsfigur, da ist er ziemlich lebendig. Es gibt ja auch immer wieder den Wunsch, Zeit zurück zu gewinnen, Zeit zu haben, Langsamkeit ins Leben zu bringen und sich nicht den ökonomisch-pragmatischen Zwängen der modernen Gesellschaft unterzuordnen.

VOLLMER: Die Sehnsucht nach Entschleunigungsinseln...

PLÖCHINGER: Stimmt. Geht es also vielleicht, wenn wir ans Flanieren denken, vielmehr um Inseln, die man sich im Alltag baut? Um auszusteigen aus einer Phase, in der man sich gerade befindet, also zwischen Beschleunigung und Entschleunigung zu wechseln?

STÖBE: Aber wer kann sich das denn leisten? Das sind doch Ausnahmesituationen. Und die funktionieren auch nur, wenn niemand von mir abhängig ist. Der Flaneur existiert über seinen Entzug, über seine Selbstbezogenheit, mit der er sich in rein optische Betrachtungen vertieft und den ästhetischen Schein zum Anlass nimmt, in seinen Träumen zu versinken. Das sieht man ganz schön an dem Gedicht „A une Passante“ von Baudelaire. Hier schildert er die Begegnung mit einer Frau, die er für einen kurzen Augenblick in einer Menschenmenge erkennt und in die er sich schlagartig verliebt. Im selben Augenblick ist sie aber auch schon wieder in der Menge verschwunden. Er hängt seinen Träumen nach, ohne jedoch den geringsten Versuch zu machen, ihr zu folgen. Die Wirklichkeit bedeutet ihm nicht viel. Sie ist nur ein Bild. Und auch ein Bild für „Wenn sich die Realität in den Kopf verabschiedet“.

PLÖCHINGER: Und trotzdem beschäftigt mich immer noch die Frage: Wie geht Flanieren oder was könnten wir vom Flaneur lernen?

STÖBE: Der Flaneur ist eine Figur, die gegen ihr eigenes Bild steht. Denken wir an den Dandy, der im Grunde ein Kapitalist ist. Der Flaneur in diesem Sinne ist doch auch das Gegenteil von dem, als was man ihn politisch gern einsetzt, nämlich als eine Figur, die sich frei macht von kapitalistischen Zusammenhängen. Man könnte fast sagen: Der Flaneur ist eine Form von Urlaub.

PLÖCHINGER: Ist er also immer nur das Andere, das man entwirft, weil man es vermisst, das man aber nicht in seine Realität übersetzt?

STÖBE: Dieses Nicht-Übersetzen in unsere Realität hat viel mit unserem Wahrnehmungssystem zu tun. Dass wir uns zum Beispiel so abschotten, soviel nicht mehr sehen, auch vieles nicht sehen wollen, hat etwas mit der Anpassung an die Welt zu tun, die heute eine andere ist als im 18. und 19. Jahrhundert. Nehmen wir doch zum Beispiel Prousts „Auf der Suche nach der verlorenen Zeit“. Das kann man doch gar nicht lesen, weil man das Zeitgefühl, das er hat, gar nicht mehr erträgt ... Vielleicht muss man erst mal Proust lesen und dann womöglich noch James Joyce, und danach wird man sehen, ob man eine andere Zeitlichkeit in seine Lebensprozesse einführen kann. Der Faktor Zeit ist der wichtigste im Spiel. Vielleicht können wir den vom Flaneur lernen.

Sylvia Stöbe, geboren 1955 in Kassel, ist Privatdozentin für Planungstheorie an der Universität Kassel und organisiert gemeinsam mit Michael Krauss den Kasseler Architektursalon. Sie studierte Architektur bei Lucius Burckhardt, Detlev Ipsen und Peter Jockusch an der Universität Kassel, wo sie zum Thema „Privatheit – Privater Raum“ promovierte. Sie arbeite als Bauplanerin und ging Studien zur Soziologie an der Freien Universität Berlin nach. Danach war sie Gastprofessorin für Gebäudeplanung, Bedarfs- und Nutzungsplanung, Entwurf an der Universität Kassel und habilitierte sich dort für Planungstheorie mit dem Thema „Chaos und Ordnung“.