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Spielplan


Termine Großes Haus:

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Warum läuft Herr R. Amok

von Rainer Werner Fassbinder und Michael Fengler
Premiere 24. Mai 2003/Großes Haus/20.00 Uhr
Mit freundlicher Unterstützung des Frankfurter Patronatsverein für die Städtischen Bühnen e. V.
Dauer 1,5 h

Regie: Michael Thalheimer; Bühne: Olaf Altmann; Kostüme: Michaela Barth; Musik: Bert Wrede; Video: Alexander Du Prel; Dramaturgie: Brigitte Landes; Darsteller: Babett Arens, Susanne Böwe, Katrin Grumeth, Friederike Kammer, Ruth Marie Kröger, Andreas Leupold, Peter Moltzen, Josefin Platt, Michael Scherff, Georgia Stahl, Falilou Seck


Herr Raab ist technischer Zeichner, er hat eine Frau und einen Sohn, er arbeitet in einem kleinen Betrieb. Da gibt es einen Chef und nette Kollegen. Seine Frau unterhält sich gern mit den Nachbarn und lädt sie ab und an ein, auch Freunde kommen zu Besuch. Es könnte eine berufliche Verbesserung in Aussicht sein, die etwas mehr Geld nach Hause bringt. Der Sohn hat einen S-Fehler und ist nicht der beste in der Schule, obwohl Herrn Raabs Frau nicht berufstätig ist. Manchmal muß Herr Raab zu viele Fenster zeichnen. In der Hauptstelle, hört man, wird ein Posten frei. Seine Frau spricht ihm Kunstverstand ab. Eine alte Freundin will ja nicht so direkt „spießig“ sagen. Zu Hause stimmt alles, Sitzgarnitur, Couchtisch, Plattenspieler, Schulaufgaben, Bekannte. Im Betrieb findet ein nettes Betriebsfest statt, wo Herr R. eine Rede hält. Ansonsten ist Herr Raab eher still, er sei ein bißchen in die Breite gegangen sagen die Nachbarn. Das ist eigentlich alles, bis Herr Raab durchdreht. Dabei ist es gerade so gemütlich. Eine Nachbarin erzählt vom Skifahren, vom Stemmbogen, vom Wedeln, vom Anstellen an Skiliften. Amok kommt aus dem Malaiischen und heißt laut Duden: in einem Anfall von Geistesgestörtheit mit einer Waffe in der Hand umherlaufen und blindwütig töten.




WARUM LÄUFT HERR R. AMOK?

Der radikal subjektive Blick des Rainer Werner Fassbinder durch das Objektiv der Kamera sieht (was sonst?) die Oberfläche. So wie der Blick eines Außerirdischen Aussehen, Bewegungen, Betätigungen dieser Mensch genannten Spezies betrachten könnte, mit Erstaunen. Fassbinders Blick ist zugleich ein poetischer Blick, der aus der Beobachtung sich die Dinge und Verhältnisse neu zusammenreimt. Er versucht nicht zu verstehen, er bildet ab, setzt kein Einverständnis voraus, stellt vorausgesetztes Einverständnis in Frage. Betrachtet man Gesellschaft so, stellen sich Fragen.
Unter diesem Blick wird was normal ist, vollkommen exotisch und erschreckend. Wie zum Beispiel der Alltag in einem Büro, der Alltag einer Kleinfamilie, Gespräche mit Kollegen, mit Nachbarn, zwischen Mann und Frau. Alltag heißt Routine, heißt nichts Aufsehenerregendes, heißt, daß nicht viel passiert. Der Normalzustand ist anzustreben, für jede Abweichung es Einrichtungen wie Psychiatrien, Therapeuten, Gefängnisse, Sozialstationen usw. Und wenn man sich an die Norm hält und allen Angeboten der Werbung glaubt, ein Auto und einen Beruf hat, wird einem ewiges Leben verheißen.
„Herr R. ist gelangweilt, aber weil er nicht über das Sicherheitsventil Geduld verfügt, explodiert er.“ Langeweile lautet eine Diagnose.
Die Geschichte vom Amoklauf des Herrn R. ist simpel: Jeden Tag geht der stille, ein bißchen gehemmte, aber ausgeglichen wirkende technische Zeichner R. ins Architekturbüro, zu Hause hat er eine anspruchsvolle Ehefrau, die sich um den Sohn kümmert, der kleine Probleme in der Schule hat, die Herrn R. Kopfschmerzen machen, die kämen aber vom vielen Rauchen, sagt der Arzt. Manchmal kommen die Eltern zu Besuch, Kaffeetrinken, Spaziergänge, dann sucht er einen bestimmten Schlager, den er seiner Frau schenken möchte, es besucht ihn ein Freund, mit dem er wehmütig Erinnerungen austauscht, Nachbarn sind ab und an zu Besuch. Einmal findet eine Betriebsfeier statt, Alkohol und gelockerte Zungen. Beruflich könnte eine Verbesserung in Aussicht sein, aber er braucht das eigentlich nicht, seine Kollegen sind in Ordnung, wie irgendwie alles. Und dann geschieht das Unfaßbare: Während des Besuchs einer Nachbarin, ohne erkennbaren Anlaß, schlägt er mit dem Kerzenständer sie, seine Frau und seinen Sohn tot, geht anderntags ins Büro und erhängt sich auf dem Klo. Warum?

Michael Thalheimer: „Wer auf dem Theater nicht lügt, bingo!“

Sind solche Lappalien Grund zum totalen Ausrasten? Am Amok scheitert die Psychologie und der Kamerablick des RWF mischt sich da nicht ein. Gerade das macht den Text, den Film, das Stück zu einem sozialen, offenen Text. Die Frage wird zur Identifikation freigegeben. Wie jeder Neurotiker hatte Fassbinder die Fähigkeit, gesellschaftliche Neurosen oder die seiner Umgebung umgehend zu erkennen. Er entdeckt im Nu die an der Oberfläche lauernden Aggressionen des Alltags, die Tabuzonen und die Leichen in den Kellern der Gesellschaft und braucht nur darauf zu zeigen, das ist schon Provokation genug. „Ich werfe keine Bomben, ich mache Filme“ (RWF). Die Verhältnisse, die diese europäische Gattung Mensch erzeugt hat, haben sich offenbar seit fast dreißig Jahren nicht wirklich bemerkenswert verändert. Der 1969 gedrehte Film mit seinen teilweise von den Darstellern selbst improvisierten Texten, ist die Vorlage zum Stück: es „konzentriert sich auf die Diskrepanz von bewußtem Verhalten und unbewußtem Antrieb, die sich in einer toten Sprache manifestiert, die ihrerseits auf eine erstarrte Gesellschaft verweist.“ Irgendwann brennt die Sicherung durch…

Text RWF: Die Kuller, die das System zerstören.
Über den Sinn des Lebens kann man gar nicht reden, ohne falsche Worte zu gebrauchen. Ungenaue. Aber es gibt keine anderen. Also los! Wenn es etwas gibt, ist es Bewegung. Ja? Und nun ist es so geworden, daß hier irgendwann einmal ein Sonnensystem sich etabliert hat, das sich nicht mehr bewegt, weil es sich geregelt bewegt. Damit es in Bewegung gerät, muß etwas sein, das etwas kaputt macht. Das ist der Grund für die Erfindung des Menschen. Die ist aber ohne Plan geschehen. Wir dürfen überhaupt nicht mehr sagen: Wir sind dazu da, damit … Der Plan der Mächtigen geschieht, wie Du vorhin gesagt hast, nicht von Mächtigen, sondern in unserem Ursachendenken, das immer wieder nur darauf aus ist, Wertsysteme zu errichten, Sinn zu stiften. Alle Geschichte, die Mythologien sind Ergebnisse dieser geplanten Kausalketten. Wenn wir nun die verschiedenen Kuller dieses Systems zerstören, dann stimmen die geregelten Schwerkräfte nicht mehr, dann bricht alles zusammen. Und plötzlich ist Bewegung und damit etwas. Aber wir stehen herum, Hersteller von Werten. Dazu sind wir da. Wir sind nicht in der Lage, das Gegenteil zu akzeptieren von dem, was ist. So sind wir nicht einmal in der Nähe von Freiheit. Das ist idiotisch. Wir werden nicht frei, wenn wir nicht die Destruktion so annehmen, wie wir das geregelte Sonnensystem akzeptieren, das unsere Erstarrung ist. Das ist so gekommen, weil das Individuum nicht weiß, daß es beendbar ist. Ich meine kein intellektuelles Wissen, sondern die körperliche Gewißheit in allem, was es tut. Die Möglichkeit, das zu verstehen wird ihm lange verweigert, die körperliche Erfahrung macht es viel später. Wenn die Gewißheit, sterben zu müssen, möglichst körperlich würde für den Einzelnen, dann würde er die existenziellen Schmerzen – Haß, Neid, Eifersucht – verlieren. Keine Ängste mehr. Unsere Beziehungen sind ja deshalb grausame Spiele miteinander, weil wir unser Ende nicht als etwas Positives anerkennen. Es ist positiv, weil es wirklich ist. Das Ende ist das konkrete Leben. Der Körper muß den Tod verstehen. In Bremen hatte ich eine gräßliche Nacht, als ich dort inszeniert habe. Ein Todestraum. Es hat mich völlig unvorbereitet getroffen. Danach hatte ich Herzneurosen und bin zu Ärzten gelaufen. Natürlich war ich nicht krank. Es hat mich mit sechsundzwanzig viel zu spät getroffen, diese Erfahrung der Beendbarkeit im Schlaf. Ich konnte sie für meine Beziehungen nicht mehr nutzen. Das ist das Thema für mein neues Stück. Es heißt „Ende endlos.“ Destruktion ist aber nicht das Gegenteil von dem, was ist. Destruktion ist, wenn dieser Begriff nicht mehr existiert, keine Bedeutung mehr hat, wenn er eine Wirklichkeit hat, die ihn verschwinden läßt. Was die Leute dann erfinden, was wäre aufregend.


Eine Reminiszenz:
Es war eine kurze Episode, ein nur einjähriges Gastspiel, das Fassbinder in Frankfurt gab. Man schrieb das Jahr 1974 als Fassbinder, bekannt durch seine Filme und das Münchner antiteater, eines Kollektivs, das durch Liebeshändel, kommunardische Lebensweise und seltsam authentische, unverlogene Theateraufführungen berühmt geworden war, berufen wurde, dieses bereits von Mitbestimmung lahmgelegte Theater am Turm, das TAT, zu retten. Als ihm die erste Produktion seines Teams nicht die ersehnte Liebe eintrug, verlor er jede Lust und hielt sich meist andernorts auf, von wo er seinem zurückgelassenen Team täglich aufmunternde Postkarten schickte: „Gebt euch keine Mühe, es reicht sowieso nicht“. Es hätte bei dieser Episode, die damals so bitter wie heute komisch wirkte, bleiben können, wenn nicht der seismographische Blick des RWF eine Leiche im Keller ausgegraben hätte, die inzwischen zu den Wiedergängern zählt: Ein Stück als Abschiedsgeschenk an die Stadt mit dem Titel „Die Stadt, der Müll, der Tod“. Geschrieben 1975 auf zwei Rückflügen von New York, um seinem Team, das vergebens wegen eines Frankfurtstücks recherchierte, zu zeigen, wie schnell er arbeiten kann und um der Frankfurter Kulturbürokratie eins auszuwischen. 1975 wurde die Inszenierung verboten und löste eine Debatte aus, deren Traum(a)ort Frankfurt zu sein scheint: über Antisemitismus.
"Warum laufen die Herren Amok?" fragte 1976 Benjamin Henrichs, der Theaterkritiker der ZEIT. Warum liefen elf Jahre später, als die Städtischen Bühnen das Stück aufführen wollten, alle wieder Amok? Was würde heute sein?
„Es ist besser, man diskutiert die Dinge, dann werden sie ungefährlicher, weniger beängstigend, als wenn man nur hinter vorgehaltener Hand darüber reden kann... Außerdem ist es doch nur ein Theaterstück. Und man muß doch die Möglichkeit haben, an ein Thema mit gefährlichen, vielleicht angreifbaren Methoden heranzugehen und nicht nur mit diesen abgesicherten; sonst entsteht wieder sowas Totes wie alles in der deutschen Theaterlandschaft. Es passiert ja nichts Lebendiges: alle nur freundlich, alle nur brav, und alle wollen nur gefallen. Das kann auf die Dauer nicht sein.“ (RWF 1976)
Wieder wurde die Aufführung verboten. Wieder, nur noch erbitterter, zielte die Diskussion haarscharf am Gegenstand vorbei und übersah wieder, nun aber endgültig, das vordergründige Objekt der bösen Satire: die Frankfurter Stadtverwaltung. Die allerdings innerhalb dieser Debatte einen Begriff prägte: „Kunstfolgenabschätzung“, dessen Folgen für die Kunst gar nicht ausdenkbar sind.
Die Ereignisse spiegelten wieder, was einmal Thema des Stücks war: wie sich Gefühle für andere Interessen mißbrauchen lassen.
Nun liegen ja in Frankfurt bekanntermaßen die Widersprüche offen, sie behauptet sich stolz als die „ehrlichste“ Stadt der Republik, mit all ihren Tabus, die eben tabu sind.

Ortsbegehung
Wenn Sie am Hauptbahnhof ankommen und in ein Taxi, steigen und sagen, daß Sie zum Theater möchten (vorausgesetzt, Sie möchten dahin), dann weiß der Fahrer meistens nicht, was Sie meinen und sagt erst einmal überzeugt „Alte Oper“. Da liegt schließlich auch der „Opernplatz“. Da Frankfurt flächenmäßig sehr klein ist, macht es nichts, wenn er Sie dann auch da absetzt, fragen Sie sich durch und Sie sind zu Fuß in fünf Minuten am ‚richtigen‘ Theater, das zwar auch an einem Platz liegt, der früher einmal sinnvollerweise „Theaterplatz“ hieß, jetzt aber seltsamerweise „Willy-Brandt-Platz“ heißt und auch sonst als Platz schwer auszumachen ist. Es wird alles nur Erdenkliche getan, um den Blick auf das Theater zu verstellen. Zuerst stößt man auf ein anscheinend neues Wahrzeichen der Stadt, einen großes blaues Euro E, dann sieht man vor allem eine Straßenbahnhaltestelle und einen U-Bahneingang. Die Frankfurter lieben es, ihre Plätze bis zur Unkenntlichkeit vollzurümpeln. Das Theater steht im Schatten eines Wolkenkratzers, ist aber unschwer an seiner großen Glasfront zu erkennen und an den Blechwolken, die innen aufgehängt sind. Die waren allerdings schon vor den Wolkenkratzern da.
Zu dem anderen ‚richtigen‘ Theater, (richtig meint, öffentlich subventioniert) müssen Sie die Stadt durchqueren. Zu Fuß eine knappe halbe Stunde etwa, durch die Bockenheimer Landstraße, wo an der Ecke, neben der Alten Oper, der erste sogenannte Wolkenkratzer in den 50er Jahren hochgezogen worden war, wo Sie jetzt allerdings eine Baulücke sehen, denn Sie müssen wissen, daß die Frankfurter es lieben, Gebäude abzureißen, auch wenn sie gar nicht so recht wissen, wann da wieder etwas hingebaut werden soll. Hauptsache: erst mal Platz geschafft. Damit stellen sie sich immer wieder eine Art Nachkriegszustand her, nur daß sie dazu keine Alliierten mehr brauchen. Rechts und links der Bockenheimer Landstraße liegt das berüchtigte Westend, wo die Hausbesetzungen und Häuserkämpfe stattgefunden haben, die in dem oben erwähnten Stück (Stadt, Müll, Tod) eine nicht unbeträchtliche Rolle spielen. Das Viertel ist als Wohngebiet ziemlich zerstört, sie sehen hier vor allem Büros. Die übriggebliebenen Eingeborenen wohnen meist an der Peripherie, nur ein paar Unverdrossene sind geblieben, wenn sie nicht auch aus ihren Häusern vertrieben wurden, weil sie saniert werden, um den Zeitbewohnern, die meist in den Banken arbeiten, für hohe Mieten Unterschlupf von montags bis donnerstags zu gewähren. Am Ende der langen Straße treffen Sie auf eine große Halle, ein ehemaliges Straßenbahndepot. Hier zog vor einigen Jahren dieses Theater am Turm, was eine Episode lang von Rainer Werner Fassbinder geleitet wurde, ein und wird nach einigen mehr oder weniger ruhmreichen Episoden nun wirklich bald geschlossen. Steigen Sie von hier in die U-Bahn und fahren Sie bis zum Willy-Brandt-Platz, wie seit einigen Jahren der ehemalige Theaterplatz, an dem das Theater noch immer steht zurück. Jetzt fragen Sie bitte nicht, was denn Theater eigentlich sei oder soll, das ist ein unerschöpfliches Thema. Früher glaubte man, es gehöre zur Kunst, zur Kultur, es sei sozusagen ein Grundrecht der Bürger und gehöre zur Zivilisation. Dieser Glaube scheint abgeschafft. Die, die noch wissen, daß es Theater überhaupt gibt, glauben, es diene vor allem der Erbauung, dem Vergnügen, andere eher, es diene der Bildung, andere, es diene der Kunst und der Auseinandersetzung, es habe keine Fragen zu beantworten, sondern zu stellen. Z. B. diese:
WARUM LÄUFT HERR R. AMOK?
Brigitte Landes